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Ronja von Rönne:
Wir kommen
Berlin: Aufbau Verlag 2016
205 Seiten
€ 18,95 / E-Book: € 14,99
Junge Erwachsene ab 16 Jahren

Rönne: Ronja: Wir kommen

#Depression #Hipster #Überforderung

von Annika Bußmann, Rebecca Josephy (2016)

Nora ist alles zu viel: Ihr Wunsch nach größtmöglichem Halt und ihre Viererbeziehung gerät ins Wanken, Panikattacken machen ihr zu schaffen und ihr Therapeut ist im Urlaub. Sie flieht mit ihren BeziehungspartnerInnen Karl, Jonas und Leonie, deren nichtsprechendem Kind sowie einer Schildkröte für unbestimmte Zeit in Karls Ferienhaus am Meer – „weil das dramatischer und mehr nach Flucht klingt‚ als für eine Woche“. Keineswegs jedoch scheint diese vermeintliche Flucht die Probleme zu lösen, sondern fördert noch mehr zu Tage. Erzählt wird aus der Perspektive der Ich-Erzählerin Nora, die ihre Gedanken für ihren Therapeuten in einem Tagebuch festhält. Außer ihrem Job für einen TV-Sender und der vermeintlich stabilen, fortschrittlichen Viererbeziehung findet sie nicht viel Halt in ihrem Leben. Immer wieder sucht sie nach Menschen, die sie leiten, ihr Entscheidungen abnehmen und denen sie folgen kann. Schließlich ist „Folgen sie mir“ für Nora nicht nur ihr liebster Satz, sondern auch das Versprechen auf die Fremdbestimmtheit, die sie sich wünscht. Diese Fremdbestimmtheit hat ihr in ihrer Jugend Maja, ihre beste Freundin aus Kindertagen, geben können, später dann Karl, die Skripte ihres TV-Formats und das Konstrukt ihrer Viererbeziehung. Doch plötzlich hört Nora, dass Maja gestorben sei – Nora verliert ihren Halt und gerät in einen Sog aus Orientierungslosigkeit, Traurigkeit und Erinnerungen. In Form von Rückblenden erfahren die LeserInnen mehr über Noras und Majas Freundschaft, ihre Jugend in der von ihnen verhassten Vorstadt und den Tod eines Mitschülers. Immer wieder drehen sich ihre Gedanken darum, ob Maja etwas damit zu tun gehabt hat. Maja erscheint als eine autonome, aktive und doch unmoralische Persönlichkeit, in der Nora Halt findet. Die Protagonistin leugnet den Tod ihrer Freundin, schreibt ihr E-Mails und hofft, es sei nur ein geschmackloser Witz Majas, ihren Tod vorzutäuschen. Nora bleibt den ganzen Roman über eine passive Figur, wie eine leere Hülle, die von den Menschen ihrer Umgebung mit Gedanken, Meinungen und Leben gefüllt wird. Ihre Depressivität und Orientierungslosigkeit steigert sich in einen alles überschattenden Egozentrismus: Sie beschäftigt sich ausschließlich mit ihrer Gefühlswelt. Denn dass die Schildkröte ihrer Mitbewohnerin, die sie mit sich rumträgt, schon einige Tage tot ist, merkt sie erst, als sie darauf hingewiesen wird. Doch nicht nur Nora, sondern auch nahezu alle anderen Figuren des Buches wollen sich selbst beweisen, dass sie Metawitze verstehen, betont alternativ, intellektuell und ironisch sind. Hinter den Fassaden sieht es jedoch anders aus: Partys werden gefeiert und Drogen konsumiert, um mehr zu sein, um irgendwas zu sein, um sich besser zu fühlen. Verzweifelt versucht man seinem Leben einen Sinn zu geben, um der allgegenwärtigen Langeweile, die angeblich aus zu vielen Optionen resultiere, entgegenzuwirken: „Das Unglück liegt in der Verfügbarkeit von Alternativen“. Die erst 23-jährige Ronja von Rönne betreibt seit 2011 ihren Blog „Sudelheft“ und ist seit 2015 Redakteurin im Feuilleton der Zeitung „Welt“. Mit ihrem Artikel „Warum mich der Feminismus anekelt“ sorgte sie für einen kontroversen öffentlichen Diskurs. Der Einfluss des Bloggens findet sich auch in ihrem Debutroman „Wir kommen“ wieder. Von Rönne sagt selbst über sich, sie schreibe, wie sie schreibe und das habe sie nun einmal über das Bloggen gelernt. Keine ihrer Figuren lädt zur Identifizierung ein, sie bleiben statisch und leer. Die Handlung plätschert episodenhaft vor sich hin und wirft die Frage auf, ob es überhaupt einen wirklichen Plot gibt. Die eigentliche Handlung des Romans findet viel mehr auf der Metaebene statt: „Das ganze Setting ist so unspektakulär, dass es höchstens für einen vernuschelten Independentfilm herhalten könnte“ – es scheint, als träfe diese Aussage Noras auf den ganzen Roman zu. Die Außenwelt wird dem Innenleben der Figuren angeglichen. So entsteht eine Leere und Orientierungslosigkeit, die sich durch den gesamten Roman ziehen. Doch steckt in dem trotzigen, wie aus einem Internetblog entnommenen Ton des Buches auch Kritik. Nora selbst ist gefangen in der Rolle des depressiven Hipstermädchens: Sie sieht die Oberflächlichkeit und Probleme, ohne sich davon losmachen zu können, und führt der Leserschaft den ganzen Schein dieser vermeintlich intellektuellen und modernen Gesellschaftsgruppe vor Augen: „Frauen, die Selfies von sich in sozialen Netzwerken posten, auf denen sie mit beiden Händen eine Kaffeetasse umklammern, Hashtag #homeoffice, weil bei #arbeitslos weniger Menschen auf „gefällt mir“ drücken.“ Ronja von Rönne zeichnet in ihrem Debütroman das Bild einer unzufriedenen, gelangweilten und unglücklichen Generation. Einer Generation, die vermeintlich in der Sinnkrise steckt und nach Führung sucht. Einer Generation, die an dem Wahn nach größtmöglicher Individualität und bestmöglicher Selbstdarstellung in sozialen Netzwerken leidet. Einer Generation, deren primärer Lebensinhalt aus der Bekämpfung der immensen Langeweile durch pseudointellektuelle Selbstinszenierung auf Partys und dem Wunsch alternativ zu sein zu bestehen scheint. All diese Charakteristika werden durch die Protagonistin Nora thematisiert und zugleich kritisiert, auch wenn – und gerade weil – sie sich selbst in genau diesem Spannungsfeld bewegt. Durch diese Metaebene weist der Roman auch satirische Züge auf. Ohne Zweifel repräsentiert „Wir kommen“ ein aktuelles Bild unserer medienkonsumierenden und auf Selbstoptimierung ausgerichteten Gesellschaft. Diese Aktualität lässt den dürftigen Plot und die fehlende Differenziertheit der Figuren verzeihen. In einer Welt voller Hashtags, Posts und Metawitzen sagen sie etwas aus, gerade dadurch, dass sie zweidimensional und flach bleiben.

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