Oppel, Kenneth (Text) und Klassen, Jon (Illustrator): Das Nest
„Softeismaschine des Grauens“
von Kerstin Lukaszczyk, Tobias Drollinger und Christoph Gusikat (2016)
„Fürs Erste ist alles, was du tun musst, Ja sagen.“ Mit diesem kleinen, einfachen Wort könnte Steve über Leben und Tod entscheiden. „Und alles, was du dafür tun musst, ist Ja sagen. Ja dazu, eurem Leid und Unglück ein Ende zu setzen. Ja dazu, deine Mutter und deinen Vater glücklich zu machen. Ja dazu, allen ein besseres Leben zu bescheren.“ Doch: Sei vorsichtig, was du dir wünschst – es könnte in Erfüllung gehen…
Kenneth Oppels Übergangsbuch „Das Nest“ handelt vom heranwachsenden Steve und seinem Gewissenskonflikt, der eine weitreichende Entscheidung fordert. Steves kleiner Bruder Theodor kommt mit einem Gendefekt zur Welt und steht vom Tode bedroht im Mittelpunkt der Familie. Die besorgten Eltern verbringen die meiste Zeit im Krankenhaus, wodurch sich Steve mehr und mehr vernachlässigt fühlt, obwohl auch er Angst um das Baby hat. Durch einen Wespenstich verursacht, meint er eines Nachts unverhofft in dem Nest aufzuwachen. Dort trifft er auf eine Wespenkönigin, die ihm verspricht, ein gesundes, makelloses Baby zu schaffen und ihn damit von seinen Sorgen zu befreien. Er muss das Angebot nur noch annehmen. Doch zu welchem Preis?
„Das Nest“ ist in 13 Kapitel aufgeteilt, die jeweils eine zur Handlung passende Illustration von Jon Klassen beinhalten. Diese sind schwarz-weiß gehalten und vermitteln eine düstere Stimmung, welche mit dem Inhalt des Textes korrespondiert. Zudem befinden sich über den ersten zwölf Kapiteln Wespensilhouetten, die die Nummer des jeweiligen Kapitels repräsentieren und somit auch einen inhaltlichen Bezug schaffen.
Diese zwischen dem Wunderbaren und dem Unheimlichen sich bewegende Geschichte wird aus der Ich-Perspektive von Steve erzählt, der psychisch labil ist und neurotische Zustände hat, die seine Sichtweise auf den Umgang mit seinem Bruder beeinflussen und Angstzustände hervorrufen. Durch die das gesamte Werk durchziehende Uneindeutigkeit schimmert stets die Frage der Euthanasie: Ab wann kann ein Leben noch als lebenswert bezeichnet werden und wie sehr gewichtet man Makel und Perfektion.
Das Motiv der Angst ist ein Thema, welches sich durch das ganze Buch zieht und sich in Albträumen sowie in Gruselvisionen, wie in der des „Messermanns“ und der zwielichtigen Wespenkönigin, widerspiegelt. Doch was davon real ist, bleibt offen und muss die LeserIn selbst entscheiden. Zu Beginn des Buches lassen sich Traum und Realität vermeintlich leicht voneinander unterscheiden, doch je mehr man in Steves Welt eintaucht, desto mehr verschwimmen die Grenzen zwischen Wirklichkeit und Fiktion, und die LeserIn findet sich wie Steve im Nest der Ungewissheit wieder.
Unserer Meinung nach ist „Das Nest“ ein gelungenes Werk, welches gekonnt mit dem Wechsel von Traum und Realität spielt und es schafft, die Spannung bis zum Ende aufrechtzuerhalten. Zudem kann es die LeserInnen für unzuverlässiges Erzählen sowie für Fantastik, die stets zwischen dem Wunderbaren und dem Unheimlichen changiert, sensibilisieren. Die vom Verlag vorgeschlagene Altersempfehlung von zehn Jahren halten wir jedoch für nicht optimal gesetzt, wenngleich Handlung und Sprache leicht zu verstehen sind. Die Thematik des Buches verlangt gewisse Reflexionskompetenzen von seinen LeserInnen: sich in Steves Lage hineinzuversetzen, die Thematik in ihrem Kern zu verstehen und sich mit der Entscheidung über Leben und Tod auseinanderzusetzen. Dies ist für viele Kinder und Jugendliche dieser Altersstufe nicht zu leisten. Auch die Motive und die angsteinflößende Atmosphäre des Werkes sind nicht altersadäquat, sodass wir die Altersempfehlung auf mindestens zwölf Jahre anheben würden.