ATAK: Martha. Die Geschichte der letzten Wandertaube
Es war eine Welt nur aus Tauben
von Gereon Bergmann und Johannes Nilles (2016)
Einst war Nordamerika vollständig besiedelt von Wandertauben. Sie durchkämmten das Land und ließen es nicht immer unbeschadet zurück. Für die Menschen waren sie nur schwer zu kontrollieren. Martha war eine dieser Tauben. Ihren Namen bekam sie von den Menschen, bei denen sie später in Gefangenschaft lebte. – Und so veranschaulicht „Martha“ das Machtstreben der Menschen über die Welt.
ATAKS „Martha“ erzählt die wahre Geschichte der Wandertauben um 1900. Dabei spielt der Tierzeichner und Präparator John James Audubon eine wichtige Rolle. Ihm ist das Werk gewidmet, und auch sein Schaffen wird veranschaulicht. Audubon steht einerseits für die Bewunderung der Tiere, andererseits für die Kontrolle des Menschen über sie, die später in Ausrottung umschlägt. Vor diesem Hintergrund erscheint die Würdigung Audubons zynisch und legt nahe, dass ATAK – ein Berliner Autor und Illustrator – mit seinem Werk auch die Nutzung von Wildtieren als Museumsexponat infrage stellt.
Der Autor hebt des Weiteren nicht nur die Kehrseite der Überzahl der Tauben hervor – „Als Schneeflocken prasselt der Kot auf die Erde hinab.“ –, sondern kritisiert gleichsam die sich selbst zugeschriebene Übermachtstellung der Menschen, wenn es heißt: „Die Menschen sind hungrig. Uns können sie essen.“ ATAKs Werk ist somit ein Appell zur Achtung vor dem Leben eines jeden Wesens: Die Menschen haben ihre Macht unbedacht ausgenutzt und die Wandertauben innerhalb nur einer Dekade komplett ausgerottet.
„Martha“ ist sehr farbintensiv illustriert. Die Seiten sind meist bis in die letzte Ecke detailreich ausgestaltet und böten auch ohne Text reichliche Anregungen. So haben die meisten von ATAKs Malereien das Potential, als Kunstwerk für sich alleine zu stehen, zumal die Seiten gespickt sind mit Querbezügen zu bekannten Werken verschiedener anderer Epochen und Genres, wie zum Beispiel Caspar David Friedrichs „Wanderer über dem Nebelmeer“. Auch in „Martha“ übernimmt die grafische Ausgestaltung über lange Strecken eine nacherzählende Funktion. Dabei nutzt der international erfolgreiche und mehrfach ausgezeichnete Autor geschickt die Farbsymbolik, um zum Beispiel Rollenzuweisungen vorzunehmen, aber auch Wendepunkte zu unterstreichen; er gibt dem Bild somit eine selbstständige erzählerische Funktion. In einem Spannungsverhältnis steht dabei die farbintensive Gestaltung mit den aus der Sicht der LeserInnen oft finster erzählten Geschehnissen.
Auf sprachlicher Ebene erzählt Martha die Geschichte ihrer Spezies auf nüchterne und reflektierte Weise, wodurch ebenfalls deutlich wird, welche Überlegenheit sich die Menschen den Tieren gegenüber zusprechen – denn woher sollten wir wissen, wie Martha ihre Geschichte wirklich erlebt hat? Insofern geht das Werk in seine eigene Falle. Den Text kennzeichnet darüber hinaus eine überwiegend wenig komplexe Wortwahl, die Sätze sind kurz und beschränken sich auf das Wesentliche. Inhaltliche Einheiten sind auch optisch in überschaubare Textblöcke gegliedert.
Mit „Martha“ ist es ATAK gelungen, eine wahre Begebenheit zu vergegenwärtigen. Dabei vermeidet er einfache Lösungen, erzählt aber trotzdem emotional ergreifend. Dass das Bilderbuch mit einfachen sprachlichen Mitteln historisch informativ ist und dabei grundlegende Schwierigkeiten einer anthropozentrischen Sichtweise aufzeigt, die heute ebenso aktuell sind wie in der amerikanischen Siedlerzeit, macht es zur geeigneten Lektüre für sowohl die Grundschule als auch den Unterricht der Sekundarstufe I.