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Gino, Alex:
George
Aus dem Amerikanischen von Alexandra Ernst
Frankfurt am Main: Fischer 2016
EA 2015 u.d.T.: George
206 Seiten
€ 14,99
E-Book: € 12,99
Kinderbuch ab 10 Jahren

Gino, Alex: George

„It’s okay to be a girlie girl”

von Nadine Maria Seidel (2016)

In Alex Ginos 2016 erschienenem Debütroman „George“ wird die Geschichte der zwölfjährigen Melissa erzählt, einem echten „girlie girl“. Nach einigen Seiten der Lektüre wird jedoch deutlich, dass die Figur von ihrem Umfeld (noch) als ein Junge wahrgenommen wird. Das liegt daran, weil George – so lautet der Geburtsname der Figur – männliche Geschlechtsorgane besitzt. George ist ein „trans-Kind“, also transgender, doch lange Zeit wagt sie sich nicht, jemandem mitzuteilen, dass sie ein Mädchen ist, und zwar ein ‚ganz typisches‘ Mädchen: Sie wird traurig bei der Vorstellung, später zu einem Mann heranwachsen zu müssen, sie würde viel lieber Mädchenkleider tragen, sie möchte unbedingt im Schultheater eine Mädchenrolle, nämlich die der Spinne Charlotte spielen, sie fühlt sich zwischen Jungen eher unwohl und blättert so oft sie kann heimlich und sehnsuchtsvoll in Mädchenzeitschriften, die sie in einer Jeanstasche vor ihrer Mutter und ihrem Bruder zu verstecken glaubt.

Die LeserIn begleitet Melissa bei ihren ersten Schritten, diejenige zu werden, die sie ist, denn Melissa hat zwar bisher noch nicht den Mut gehabt, ihrer alleinerziehenden Mutter, ihrem Bruder oder ihrer besten Freundin Kelly mitzuteilen, dass sie ein Mädchen ist, aber es besteht kein Zweifel oder eine innere Zerrissenheit darüber, wer sie ist: Melissa fühlt sich als Mädchen. Punkt. Durch einen Trick und die Hilfe ihrer Freundin Kelly schafft sie es dann doch, bei der Schulaufführung die Mädchenrolle der Spinne Charlotte spielen zu dürfen und somit zum ersten Mal in ihrem Leben als Mädchen aufzutreten – was gemischte Reaktionen nach sich zieht. So sind die als zunächst liebevoll und tolerant gezeichneten Figuren der Mutter und Melissas Lehrerin diejenigen, die ganz überraschend nicht wohlwollend und unterstützend reagieren, sondern befremdet und wütend zurückbleiben. Dass Figuren, von denen man es gar nicht erwartet hätte, Melissa Toleranz entgegenbringen und dagegen wichtige Bezugspersonen einfach wegbrechen, ist eine typische Erfahrung von trans-Kindern: „Sei, wer Du bist“ leuchtet der LeserIn auf dem regenbogenfarbenen Umschlagstext von „George“ entgegen und macht so noch vor Lektürebeginn klar, dass dieser Roman einen Auftrag hat, der über reines Lesevergnügen herausgehen soll: Er soll Trans-LeserInnen Mut machen und alle anderen für den schwierigen Prozess sensibilisieren, in dem sich trans-Kinder befinden. Mit „George“ liegt ein deutschsprachiger Roman vor, der zu den wenigen gehört, in denen Transsexualität überhaupt thematisiert wird.

Werden in diesem Roman Geschlechterklischees evoziert? Ja, müsste man ehrlicherweise sagen: Melissa unterscheidet sich beispielsweise in ihrem Verhalten deshalb von den anderen Jungs, weil sie sensibel ist und häufig in Tränen ausbricht. Dies wird in der Geschichte als ‚mädchenhaft‘ bezeichnet und ist eher negativ konnotiert. Der Vorwurf der Verfestigung binärer (Geschlechts-)Kategorien sowie Geschlechterklischees ist jedoch der Lieblingsvorwurf von Alex Gino, wie er im Les(e)bar-Interview „Elf Fragen an…“ verriet: Weil die Figur noch so jung ist, dass man eher von einer kindlichen, denn einer adoleszenten Protagonistin sprechen muss, braucht es eindeutiger Zuschreibungen, da in dem jungen Alter trans-Kinder noch nicht die Sicherheit haben, sich eindeutig identifizieren zu können. Während es also trans-Kinder gibt, die sich nicht mit der einen oder anderen Geschlechterkategorie identifizieren können und diese Binarität nicht leben möchten (dazu gehörte Alex Gino selbst), gibt es auch solche Kinder, die die Geschlechter-Kategorie wechseln möchten – so ein Kind ist Melissa.

Und dass es völlig okay ist, eben ein „girlie girl“ zu sein, darin kann man Alex Gino nur zustimmen.


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