Levithan, David: Two Boys Kissing. Jede Sekunde zählt
„Jeder Kuss enthält in seinem Kern eine Erkenntnis“
von Fabian Beckers und Charlotte Kleinsorge (2016)
„IHR KÖNNT NICHT WISSEN, wie es jetzt für uns ist – da werdet ihr immer einen Schritt hinterher sein. Seid dankbar dafür. Ihr könnt nicht wissen, wie es damals für uns war – da werdet ihr immer einen Schritt voraus sein. Seid auch dankbar dafür.“
Mit diesen Sätzen beginnt David Levithans neuer Jugendroman „Two Boys Kissing“. Sie sind zunächst schwer zu verstehen, der Leser braucht Durchhaltevermögen, um zu erkennen, wer ‚wir‘ sind, wer ‚ihr‘ seid. Hinzu kommt, dass zwischen den Geschichten über acht Jungs ständig gewechselt wird, und man sich erst einmal einfinden muss in jede einzelne dieser Erzählungen, ohne sie miteinander zu verwechseln. Doch nach etwas Zeit und mehrmaligem Zurückblättern lernt man die Figuren und ihre Beziehungen zueinander besser kennen und weiß, was sie verbindet: Sie sind schwul.
Bei dem Versuch, den Weltrekord im Langzeitküssen zu brechen, werden Harry und Craig vor eine schwierige Aufgabe gestellt. Es müssen sich nicht nur zweiunddreißig Stunden, zwölf Minuten und zehn Sekunden lang ihre Lippen berühren, sondern sie müssen sich auch noch mit ganz anderen, unvorhergesehenen Hürden auseinandersetzen. Obwohl Harrys und Craigs Beziehung beendet ist, wollen sie ihr Ziel verwirklichen. Für alle anderen homosexuellen Männer. Gegen die Gewalt an Schwulen. Für mehr Toleranz.
Während Harrys und Craigs Beziehung schon zu Ende ist, haben Neil und Peter hingegen eine länger anhaltende, gefestigte Beziehung. Die beiden sind schon über ein Jahr zusammen und durchleben die ‚normalen‘, alltäglichen Dinge einer Beziehung. Neils Eltern jedoch ignorieren die Tatsache, dass sie einen schwulen Sohn haben. „Ich bin schwul. Ich war schon immer schwul und ich werde immer schwul sein. Das müsst ihr kapieren, und auch, dass wir keine richtige Familie sind, bis ihr es kapiert.“
Cooper hingegen ist noch nicht an diesem Punkt angekommen: Er sitzt die meiste Zeit des Tages am Computer und chattet mit fremden homosexuellen Männern im Internet. Dabei verbirgt er seine Identität hinter erfundenen Profilen, während im realen Leben keiner weiß, dass er schwul ist. Doch als sein Vater am offen liegenden Laptop entdeckt, was Cooper im Internet treibt, ändert sich für ihn alles. Nach einem großen Streit entflieht er seiner Familie, welche kein Verständnis für seine sexuelle Orientierung hat, und will sich schließlich sogar umbringen.
Auch wenn jeder der acht Jungs eine eigene Geschichte hat, so verdeutlicht der Erzähler, dass alle Jungs am Ende etwas Gemeinsames haben. Dieser Erzähler spricht für seine Generation – die erste Generation schwuler Männer, die an AIDS gestorben sind. Immer wieder kommentiert er das Geschehen, die Erlebnisse der acht Jungs, und immer hört man dabei ein Bedauern. Das Bedauern, dass sie den Jungs nicht beistehen können, ihnen nicht sagen können, dass alles in Ordnung ist, dass sie stolz auf sich sein können.
Obwohl die eingestreuten Berichte des Erzählers oftmals nah an der Grenze zum Kitsch formuliert sind, geben diese viele Einblicke sowohl in das Leben der jugendlichen Protagonisten, mit all ihren Gedanken, Wahrnehmungen und Gefühlen, als auch in das Leben eines schwulen Mannes der früheren Jahre. Hierbei werden viele Erfahrungen vom Beginn der Schwulenbewegung aufgezählt, egal ob es gute oder schlechte gewesen sind. Es wird das große Leid dieser an AIDS erkrankten Männer geschildert, die Todesfolgen dieser Krankheit, das Massensterben der Schwulen, während alle heterosexuellen, nicht-erkrankten Menschen tatenlos und desinteressiert dabei zugesehen haben.
„Two Boys Kissing“ ist das neue Buch nach Levithans Erfolgsroman „Letztendlich sind wir dem Universum egal“ (2012). Der Autor, selbst homosexuell, befasst sich in diesem Buch wiederholt mit dem Thema Homosexualität, wie beispielsweise schon in seinem mit John Green verfassten Roman „Will & Will“. Mit seinem jüngsten Werk zeigt Levithan, dass auch Homosexuelle als ‚normal‘ angesehen werden wollen, sollen und müssen. Ein Kuss soll zeigen, dass Homosexualität nichts Ungewöhnliches und Unnormales ist.
Leider gilt in vielen Ländern eine andere Norm, auch noch bei uns in Deutschland. Aber was ist schon ‚normal‘ oder die eine Norm?
Wenn jedoch gefordert wird, dass Homosexualität nicht mehr als etwas Unnormales und Ungewöhnliches betrachtet wird, warum wird dann ein Kuss zwischen zwei jugendlichen Männern als etwas so Besonderes dargestellt? – Weil es leider aktuell noch etwas Auffälliges ist, etwas, dass für viele Menschen noch nicht zu ihrer Norm gehört. Die Erkenntnis des großen Kusses: Das Austauschen von Gefühlen zwischen gleichgeschlechtlichen Menschen in der Öffentlichkeit sollte eigentlich nichts mit Mut, Kampf für Toleranz und Protest gegen Gewalt an Homosexuellen zu tun haben. Es sollte nichts Besonderes, Auffälliges sein. Doch durch Hass, Intoleranz und Ablehnung wird sich daran nichts ändern.