Hole, Stian: Morkels Alphabet
„Moschusochse, Gänsehaut und Ackerland“
von Kathrin Frimmel, Luisa Schreiber & Linda Zwiener (2016)
„Alle haben ihr eigenes Alphabet, denkt Anna. Es kann lange dauern, bis man die Buchstaben versteht.“
Morkels Welt ist eine Baumhütte im Wald, sein Alphabet entspringt aus dieser. Er geht fast nie zur Schule, sondern sammelt Wörter und lauscht den Vögeln. In diese Welt taucht Anna ein, als sie auf einem Acker geheimnisvolle Zettelbotschaften findet: „Die Laubsänger sind schon weg. Die Mauersegler auch“. Die Spuren im Schnee führen Anna zu Morkel, einem Jungen in ihrem Alter, der ein Aussteiger und Außenseiter ist. Er erzählt Anna vom Wald und den Vögeln - gemeinsam finden sie die schönsten Wörter: „Moschusochse, Gänsehaut und Ackerland.“ Doch als die letzten Zugvögel fortziehen, verschwindet auch Morkel. Anna weiß nicht wohin, aber sie weiß, dass der Frühling bald kommt. Und die Vögel werden zurückkommen.
„Morkels Alphabet“ vom preisgekrönten Autor Stian Hole, aus dem Norwegischen von Ina Kronenberger, ist ein besonderes, poetisches Bilderbuch mit kurzen Textabschnitten. So schnell wie die äußere Handlung erzählt ist, so facettenreich und detailverliebt sind die montageähnlichen Illustrationen von Hole. Sie entführen die LeserInnen in eine zarte, pastellfarbene Traumwelt, die fotorealistische Gesichter mit malerischen Hintergründen kombiniert und so die Grenzen zwischen Traum und Realität nie ganz scharf zieht. In den Bildern spiegelt sich die Gefühlswelt Annas, die eindrücklich durch den Wechsel der Jahreszeiten, vom hereinbrechenden Winter bis zum aufblühenden Frühling, dargestellt wird. So wird auch die Verlusterfahrung durch triste und leere Illustrationen deutlich: Als Anna in ihrer Verzweiflung Botschaften an Morkel in den Schnee schreibt, gibt Hole ihr dafür Platz auf einer Doppelseite ganz ohne Text.
Denn Anna und Morkel verbindet mehr als Freundschaft, die nicht ausreicht um auszudrücken, in welcher Intensität sich Anna zu dem rätselhaften Jungen und seiner traumhaften Welt hingezogen fühlt. Aus der geteilten Liebe zu den Wörtern wird bald eine vorsichtige Liebe zueinander. Durch das Setting im Wald weckt das Buch Assoziationen an die Romantik und ist eine Hymne an Naturverbundenheit und Fantasie. Die Bindung zwischen Anna und Morkel ist bestimmt von tiefer Sehnsucht, die Anna bis in ihre Träume verfolgt. Dadurch, dass Hole die LeserInnen an ihren Träumen teilhaben lässt, kommt man ihr sehr nahe. Überhaupt ist dieses Buch der Einstieg in eine fremde Welt, die den LeserInnen nicht durch erzählerische Spannung, sondern durch die dichterische, fantasievolle Gestaltung an die Geschichte fesselt.
Die Sätze sind kurz, die bildhafte Sprache jedoch komplex und anspruchsvoll. Das Buch ist daher – anders als vom Verlag vorgeschlagen – erst für Kinder beziehungsweise Jugendliche ab 12 Jahren geeignet, die durch die detailreichen Illustrationen schnell einen Zugang zur Welt des Buchs finden. Auch ältere LeserInnen werden Freude an der poetischen Sprache haben: Wörter und Buchstaben erhalten etwas Magisches, das sich in Vogelschwärmen, in Schneespuren oder auf Zetteln manifestieren kann. Zusätzlich zu den Illustrationen beginnt auch jeder Textabschnitt mit einer künstlerischen Initiale. „Morkels Alphabet“ handelt also vor allem von der Schönheit an und dem Spaß mit der Sprache, die keinesfalls grauer Schulstoff, sondern der Schlüssel in eine traumhafte Welt ist. So lassen sich auch in der Natur Dinge über das Leben lernen: „Du darfst nicht alles glauben, was du hörst. Stare können Geräusche nachahmen. Sie können bellen wie ein Hund oder plärren wie ein Baby, das habe ich schon gehört.“
Das Buch ist frei von Werturteilen, die dargestellte Welt wird lediglich beobachtet, anerkannt und bewundert. Entsprechend ist das Ende offen gehalten, genau wie das Buch für Offenheit gegenüber anderen Lebensentwürfen, den kleinen Dingen im Leben und der stillen Kontemplation der Welt wirbt. Die vielen Leerstellen wirken nicht als Lücken, sondern bieten Raum für eine individuelle Lesart und Vorstellungsentwicklung. Morkel wird dabei zur Projektionsfigur dieser Träume, Sehnsüchte und Naturerfahrungen.
Der Autor Stian Hole ist bekannt für seine Kinderbücher, in denen er die großen Themen des Lebens aus der Sicht von Kindern schildert und hierbei ihre Wünsche, Ängste und Träume auf authentische Weise zum Ausdruck bringt. Anna taucht bereits in Holes Bilderbuch „Annas Himmel“ auf, in dem sie ihre Mutter verliert und versucht, mit ihrer Trauer umzugehen. Als Morkel spurlos verschwindet, durchlebt Anna ebenfalls eine Verlusterfahrung: „Nichts wirkt mehr wie etwas anderes. Anna ist nur noch Anna, es fühlt sich nach ganz wenig an.“ Hole versteht es nicht nur die richtigen Bilder, sondern auch die richtigen Worte zu finden, um mit den RezipientInnen auf einer kindlichen aber dennoch anspruchsvollen Ebene zu interagieren.
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