Lockhart, Emily: Solange wir lügen
Die Lügeninsel der Sinclairs
von Leonie Kahlert (2016)
Die fast achtzehnjährige Cadence Sinclair Eastman ist Teil einer wohlhabenden, adeligen Familie. Jeden Sommer fährt die ganze Familie auf ihre Privatinsel Beechwood, auf der sie von der Außenwelt abgeschottet ist. Durch diese gemeinsame Zeit entsteht eine enge Freundschaft zwischen den Cousins und Cousinen Cadence, Jonny, Mirren und Gat. Die Clique trägt den Spitznamen „die Lügner“, da sie in der Familie für viel Ärger sorgen. Im – wie Cadence ihn nennt – „Sommer fünfzehn“, in dem alle vier Jugendlichen fünfzehn Jahre alt sind, ereignet sich ein schlimmer Unfall, wodurch Cadence ein Schädel-Hirn-Trauma erleidet und sich stark in ihrer Persönlichkeit verändert. Sie merkt, dass die Anderen ihr etwas verschweigen. Schließlich versucht sie, die verlorenen Erinnerungen zwei Jahre später im „Sommer siebzehn“ zurückzugewinnen.
Die vier Jugendlichen gelten als Rebellen der Familie, da sie sich gegen den guten Ruf der adeligen Familie wenden. So färbt sich Cadence ihre blonden Haare schwarz, obwohl ihr Großvater unbedingt möchte, dass sie wie die anderen Familienmitglieder blonde Haare hat. Außerdem verschenkt sie nach und nach fast alle ihre Sachen: Sie ist davon überzeugt, dass man viel zu viele Sachen nur wegen des Besitzes kauft und nicht des Nutzens wegen. Sobald jemand von außen in die Familie kommt, der nicht den Wohlstand der Familie wiederspiegelt, versucht der Großvater, diesen wieder loszuwerden. So auch bei Gat, der indischer Herkunft ist und erst mit acht Jahren, durch einen neuen Partner von Cadences Tante, Teil der Familie geworden ist. Für den Großvater ist Gat ein Dorn im Auge, und er versucht, die Liebesbeziehung zwischen Gat und Cadence zu verhindern, da der Junge seiner Ansicht nach nicht zu dem ‚perfekten‘ Bild der Familie passt.
Zu Beginn des Jugendbuches „Solange wir lügen“ von Emily Lockhart wird man herzlich willkommen geheißen: „HERZLICH WILLKOMMEN bei den wunderschönen Sinclairs“. Hierbei wird jedoch schnell die Verachtung der Erzählerin Cadence gegenüber der Arroganz der anderen Familienmitglieder auf ironische, schon bald verachtende Art und Weise widergespiegelt.
Die Familie, besonders Cadences Großvater und seine drei Töchter, möchten den guten Schein der Familie wahren; sie möchten als angesehene, wohlhabende und wunderschöne Familie wahrgenommen werden: „Niemand ist schwach. Niemand hat Unrecht. […] Vielleicht ist das schon alles, was ihr wissen müsst.“ So bauen sie ein ‚Lügengerüst‘ auf, damit Cadence nicht erfährt, was wirklich geschehen ist, und auch die anderen Jugendlichen melden sich nicht mehr bei ihr. Doch die wahre Persönlichkeit der einzelnen Familienmitglieder kommt im Laufe des Buches immer mehr zum Vorschein; das Lügengerüst gerät ins Wanken und bricht zusammen. Wirkt die Familie am Anfang noch als ‚perfekt‘, zeigen sich immer mehr Probleme der Sinclairs. Besonders das Vermögen der Familie ist häufig Auslöser für Streitigkeiten. Die drei Schwestern greifen immer häufiger zum Alkohol, um ihren Kummer zu ertränken, und zuletzt wird sogar das Vermögen über den Familienzusammenhalt gestellt. Cadences Mutter instrumentalisiert sogar ihre Tochter, um an das Familienerbe zu gelangen und stiftet sie gegen ihren Willen zur Lüge an.
An vielen Stellen des Jugendbuches spricht Cadence in Metaphern, die verdeutlichen, wie schlecht es ihr geht. So rollt ihr Herz aus ihrem „Brustkorb ins Blumenbeet“, da ihr Vater es ihr aus der Brust „schießt“, indem er die Familie für eine andere Frau verlässt. Den stechenden Schmerz in ihrem Kopf, der durch das Schädel-Hirn-Trauma verursacht worden ist, vergleicht sie mit „[a]asfressende[n] Vögel[n]“, die an ihrem „herausquellenden Hirn“ herumpicken. Sie erzählt ihre Geschichte immer wieder in Form von Märchen, die ihre familiäre Situation überspitzt darstellen. Sie geht verschiedene Märchenvarianten durch und ersetzt die Figuren durch ihre Familienmitglieder, um herauszufinden, wer diese wirklich sind. Die Metaphern und Märchen tragen dazu bei, dass Cadence der Wahrheit auf die Spur kommen.
Nicht nur der Familie Sinclair, sondern auch den Lesern wird zuletzt bewusst, dass solange gelogen wird, keine glückliche und losgelöste Familie bestehen kann. Erst als die Wahrheit am Ende des Buches aufgedeckt ist, kommt zum ersten Mal ein Gefühl von Zusammengehörigkeit in der Familie auf. Nicht nur die fortlaufende Spannung, sondern auch der Gebrauch verschiedener Stilmittel und die Gebrechlichkeit der vermeintlich perfekten Familie Sinclair machen das Jugendbuch „Solange wir lügen“ zu einer einzigartigen und spannenden Geschichte – das Ende ist nicht nur für Cadence eine erschreckende Überraschung, mit der man bis dato nicht gerechnet hat.