Beauvais, Clémentine: Dreckstück
Gelangweilt in die Katastrophe
von Christine Göbbels und Pascál Bongartz (2016)
„Die Leute wollen immer wissen warum, warum, warum, warum – aber es gibt kein Warum, ist euch das noch nie passiert, dass es kein Warum gibt?“
Acht Uhr morgens: Anne-Laure, David, Élise, Florian und Gonzague treffen sich vor der Schule, um ihre erste Zigarette zu rauchen. Nach einigem Hin und Her beschließen sie, die Schule zu schwänzen und schlendern – „ohne ein bestimmtes Ziel“ – durch Paris. Als die Gruppe auf eine Grundschulklasse trifft, fällt ihnen ein dunkelhäutiges Mädchen auf. Das Mädchen hat Läuse, und so beschließt die Clique, aus purer Langeweile oder aus einer Laune heraus, das kleine Mädchen mit in Gonzagues Wohnung zu nehmen, um es zu entlausen. Dort werden die Parasiten entfernt, auf grausame Art und Weise. Die Situation läuft immer weiter aus dem Ruder, und keiner ist willens oder im Stande, dem Ganzen ein Ende zu setzen.
Clémentine Beauvais‘ Debütroman „Dreckstück“ wird von der angedeuteten Gruppendynamik getragen: Jede einzelne Figur hat ihre Rolle im Gefüge. David fällt besonders als Mitläufer auf. Er teilt oft die Meinung Élises. Wegen der ‚sozialen Haltung’, die beide Figuren miteinander teilen, geraten sie oft in Konflikt mit der restlichen Gruppe. Auffällig ist, dass sich die einzelnen Mitglieder gegenseitig zu ‚Dummheiten’ anstiften. Jeder will den anderen gefallen. Gegenseitige Bestätigung spielt dabei eine besonders wichtige Rolle, nur dadurch schaukeln sich die Ereignisse hoch. Schon auf den ersten Seiten wirkt die Gruppe auf den Leser arrogant und unsympathisch. Dies zeigt sich durch ihre beleidigenden Äußerungen zu Passanten, der gereizten Stimmung in der Gruppe selbst und ihrer ,Nullbockeinstellung’ der Schule gegenüber.
Nicht nur David fragt sich während der Handlung „Warum“ und wie es zu der Katastrophe kommen konnte, sondern auch der Leser wird mit diesen Fragen konfrontiert. Die Geschichte wird aus der Sicht Davids geschildert, der versucht, das Geschehen rückblickend zu rechtfertigen; was ihm jedoch nicht gelingt. Formulierungen wie „hätte“ und „wäre“ geben vor, dass er gerne anders gehandelt hätte, jetzt aber nichts mehr an der Situation ändern kann. Im Nachhinein ist man immer klüger, und erst einmal sind es ohnehin die Anderen gewesen. Doch am Ende erkennt David, dass auch er mitschuldig ist.
Kennzeichnend für die Langeweile in der Gruppe ist die Tatsache, dass das kleine Mädchen in der Wohnung erst einmal außer Acht gelassen wird: Keiner weiß, was mit ihr geschehen soll. Anfänglich ist der Umgang mit der Kleinen scheinbar harmlos. Anne-Laure und Élise öffnen ihre Zöpfe und entfernen ihr nach und nach die Läuse. Spätestens als Florian sie aber mit in Essig-Läusen getränkten Reis zwangsfüttert, gerät man an die Grenzen des Erträglichen. Eingehend mit einer Radiomeldung über eine Kindesentführung, bricht die vorgetäuschte Fassade der Selbstsicherheit der Clique in sich zusammen. Vor lauter Panik, dass jemand aus der Gruppe sie verraten könnte, schmeißt sich Florian auf Gonzague, nur, weil dieser mit seinem Handy beschäftigt ist. Als sich die Gemüter wieder beruhigt haben, kommt die Idee auf, dem Mädchen die Haare ganz abzuschneiden, um die restlichen Läuse zu entfernen.
Als sich Élise und David zu den älteren Nachbarn begeben, um herauszufinden, ob diese Verdacht einer Kindesentführung schöpfen, nimmt die Erzählung einen absurden Charakter an. Durch die Erzählperspektive ist dem Leser genauso unbekannt, was sich nun in Gonzagues Wohnung abspielt, wie dem Erzähler David. Die Jugendlichen, die von den Nachbarn für Pfleger gehalten werden, baden die alte Dame, während sie von oben Geräusche vernehmen: Die „schauerliche Musik des Haarschneiders“ löst Beklemmungen und Gänsehaut aus. Die behütete Umgebung in der Altenwohnung steht im starken Kontrast zu dem Setting in Gozagues Appartement. Als Élise und David zurück in die Wohnung gehen, ist das Mädchen nicht mehr da: Sie wird später kahlrasiert, gefoltert und misshandelt im Fahrstuhl aufgefunden.
Besonders ausdrucksstark wirkt dabei die bildhafte Sprache. So zum Beispiel die Metapher: „Jeder Pulsschlag eine Gewehrkugel“, die Davids Gefühlslage widerspiegelt, als er sich ausmalt, was die Gruppe mit dem Mädchen angestellt haben könnte. Der Ich-Erzähler spricht im Schlusssatz: „Je mehr man an die Läuse denkt, desto mehr kribbelt es. Und wie ich sehe, geht es bei euch auch schon los.“. So nimmt der Leser abschließend die Stimmung des Buches mit. Eine Antwort auf das „Warum?“ erhält man dabei nicht.
Clémentine Beauvais gibt in ihrem Roman „Dreckstück“ einen hervorragenden Einblick in die Charakteristika einer Jugendclique. Diese fünf Jugendlichen könnte man so auch in anderen Städten vorfinden. Die glaubwürdige, beklemmende und beinahe psychopathische Problembeschreibung und die Gruppenkonstellation überzeugen hierbei besonders.