Walther, Franziska und Johann Wolfgang von Goethe: Werther Reloaded
Auf der Suche nach sich Selbst
von Sinja Andrick-Bürger, Esther Kunze, Maj Neitzert (2016)
„– kurz und gut, ich habe eine Bekanntschaft gemacht, die mein Herz näher angeht. Ich habe – ich weiß auch nicht.“ „Werther reloaded“ erzählt die Geschichte des 28-jährigen Art-Direktors Werther. Auf der Suche nach der großen Liebe ist sein Leben in New York City geleitet von pausenloser Arbeit, ständigem Konsum, One-Night-Stands, zwanghaften Verhaltensmustern und einer kontrollsüchtigen Mutter. Sein exzessiver, einsamer und ‚sinnfreier' Lebensstil treibt ihn schließlich aus der Großstadt aufs Land. Durch die Loslösung von seinen alten Gewohnheiten erlebt er vorübergehend innere Ruhe und findet wieder zu sich selbst. Er lernt Lotte kennen und verliebt sich in sie, die, wie könnte es anders sein, mit Albert verlobt ist. Werther versucht trotzdem Lotte für sich zu gewinnen, scheitert – Die Illustratorin Franziska Walther hat – wie bereits viele AutorInnen vor ihr – Johann Wolfgang von Goethes „Die Leiden des jungen Werther“ aus dem Jahr 1774 in die Gegenwart versetzt. In ihrer Graphic Novel über das Erwachsenwerden nutzt sie Ausschnitte der Briefe aus dem Ursprungstext. Um sich jedoch auch vom Original zu lösen, hat sie dieses, wie im Nachwort festgehalten, „erweitert, dekonstruiert und transformiert“. Eine Entfernung von Goethes ‚Klassiker‘ wird bereits zu Beginn deutlich. Die Autorin schildert den unruhigen Lebensalltag der Hauptfigur ausschließlich in Form von ausdrucksstarken Illustrationen, die ihren ersten Höhepunkt in Werthers Zusammenbruch und der darauffolgenden Flucht aufs Land finden. Im Anschluss daran werden die Illustrationen mit Auszügen aus dem Briefroman gestützt. Goethes Fassung hingegen setzt unmittelbar mit dem Briefwechsel Werthers ein und verzichtet somit auf die Schilderung einer Vorgeschichte. Zuletzt sticht aber besonders das Ende von „Werther reloaded“ als Neuentwurf des ‚Klassikers‘ hervor. Wie bereits in anderen Veröffentlichungen Walthers ist ihr Stil von karikaturähnlichen Zeichnungen und einer sehr expressiven Farbgebung geprägt. Sie ermöglicht den LeserInnen dadurch, wenn auch nur unterbewusst, einen genaueren Einblick in Werthers Gefühlserleben. Im Verlauf der Handlung variieren die Farbtöne je nach Stimmungslage der Hauptfigur in Helligkeit und Intensität. Franziska Walther macht hier vor allem von Blau-, Rot- und Grüntönen Gebrauch, wobei die Farbe Violett dominiert. Die Hervorhebung dieser Farbe kann in verschiedenen Kontexten Einsamkeit und Selbstbezogenheit repräsentieren und lässt sich dadurch mit der psychischen Verfassung Werthers in Bezug setzen. Die zeitübergreifend relevanten Themen des Romans wie Identitätsfindung und Liebe werden durch die Illustrationen der Grafikerin in einer plakativeren Art und Weise präsentiert, als dies in dem Text Goethes der Fall ist. Dies zeigt sich unter anderem in der offenen, unverschleierten Darstellung von Sexualität. Während dieses Thema im Ursprungstext nur zwischen den Zeilen erkennbar ist, gehört es in der heutigen Gesellschaft zum Alltag. Alltäglich ist auch die Nutzung von sozialen Netzwerken, die Walther deshalb als Mittel zur Selbstdarstellung Werthers aufgreift. Im Anschluss an die Graphic Novel gibt sie außerdem ein umfangreiches Interpretationsangebot für die verwendeten Symbole, die in den Illustrationen zahlreich wiederzufinden sind. Diese Hinweise können den LeserInnen als hilfreicher Zugang zu Walthers ‚Bildwelt‘ dienen, sind allerdings nicht ausschlaggebend für die eigene Auslegung. Angehängt findet sich auch das Original Goethes vollständig abgedruckt. Mit ihrer Graphic Novel „Werther reloaded“ gelingt es Franziska Walther, einen hochgepriesenen Text Goethes in die Gegenwart zu versetzen, indem sie eine Neuinterpretation wagt. Die Graphic Novel eignet sich dadurch unter anderem als ein guter Zugang für junge Erwachsene zur komplexen Literatur. Aber auch ohne den Anspruch, das Original gelesen zu haben, oder in Zukunft lesen zu wollen, greift „Werther Reloaded“ zugleich zentrale alltägliche Themen und Probleme des Erwachsenwerdens auf. Die Kombination aus Goethes ‚literarischer Sprache‘, expressiven modernen Illustrationen und dem lebensnahen Bezug zu sozialen Netzwerken ermöglicht es, den Zeitgeist der heutigen Generation einzufangen.