Zeevaert, Sigrid: Tage & Nächte
Reisen zu sich selbst
von Maike Hoof und Katrin Schallenberg (2010)
Jana ist sechzehn Jahre alt. Sie fährt nach Paris auf der Suche nach Freiheit und dem ‚wirklichen Leben‘. Zuhause erträgt sie es nicht mehr. Ihr Vater hat die Familie vor Jahren verlassen, um mit einer jüngeren Frau zusammen zu leben. Nun hat er zwei neue Kinder, da bleibt kaum Zeit für Jana und ihren Bruder. Ihre Mutter hat häufig neue Beziehungen und ist nun mit Janas Physiklehrer zusammen; dies macht die Situation für Jana nur noch schwieriger. Ihr Bruder Lukas hat sich bei alledem von der Familie distanziert und ist für sie kaum noch zu erreichen. Einzig ihre Halbschwester Lynn vermisst Jana während ihrer Flucht nach Paris.
Julian ist siebzehn und wurde von seiner Mutter mit sechs Jahren verlassen. Seit diesem Zeitpunkt hat er nichts mehr von ihr gehört. Er und sein Vater leben deshalb mit dem Versuch, sie zu vergessen. Fast ist es ihnen gelungen, doch da drängt ein Anruf aus Paris auf ihr sofortiges Kommen: Die Mutter liege im Sterben. Julian und sein Vater treffen in Paris auf eine von Krebs gezeichnete Frau. Obwohl der Vater und der langjährige Lebensgefährte der Mutter ihm behutsam und schonungsvoll begegnen, fühlt sich Julian von niemanden verstanden und versteht sich auch selbst nicht mehr: Zum einen will er wissen, warum seine Mutter ihn verlassen hat, will ihre Geschichte hören. Dann wieder kann er die Situation nicht ertragen und flieht nach draußen, um nachdenken zu können. Bei einem seiner Spaziergänge trifft er auf die herumstromernde Jana ...
Sigrid Zeevaert erzählt die Geschichte zweier Heranwachsender, die sich an kritischen Punkten ihres Lebens befinden. Die jugendlichen Protagonisten verbindet, dass sie auch dadurch zu sich selbst finden müssen, dass sie sich mit ihrer persönlichen Familiengeschichte auseinandersetzen. Jana versucht dies, indem sie von zu Hause flieht. Sie muss über ihre familiäre Situation nachdenken und herausfinden, was sie will und wer sie eigentlich ist. Julian hat jedoch keine Wahl. Er muss nach Paris, um dort ein letztes Mal seine Mutter zu treffen. Er möchte Antworten auf die Fragen, die ihn seit Jahren umtreiben.
Julian und Jana helfen sich auf ihrem schwierigen Weg, indem sie zum einen versuchen, ihre Verliebtheit zu genießen und auszuleben, und zum anderen über die jeweilige Familiensituation sprechen und sich so gegenseitig Halt geben. Doch müssen am Ende beide ihren eigenen Weg gehen, um sich selbst zu finden.
Sigrid Zeevaert ist Kinderbuchautorin. Mit „Tage & Nächte“ hat sie sich zum zweiten Mal im Bereich Jugendbuch versucht. Schon in „Wer bin ich“ (2009) benutzte sie den Perspektivenwechsel, um aus der Sicht verschiedener Personen zu erzählen. Diese erprobte Erzähltechnik prägt auch ihren neuen Roman: Der Perspektivenwechsel sorgt für Spannung und lässt die jugendlichen Gefühle eindringlich miterleben.
Wenn „Tage & Nächte“ dennoch eine nicht unwesentliche kompositorische Schwäche hat, liegt dies daran, dass der Hauptstrang der Geschichte, der von der Ich-Findung der beiden Protagonisten erzählt, gegen Ende durch ein zusätzliches Thema angereicht wird: Julians Mutter stirbt und hinterlässt ihrem Sohn ein Notizbuch, das ihr Fehlverhalten mit ihrer eigenen Familiengeschichte zu erklären versucht. Julians Großmutter hatte nämlich als Schulmädchen während der Nazi-Diktatur ungewollt einen Verrat begangen, war mit dieser Schuld nie fertig geworden und hatte diese später an ihre Tochter, Julians Mutter, weitergegeben, die dann selber darüber zerbrach. Diese unnötige Themenerweiterung gibt der Geschichte eine andere Stoßrichtung: Nicht mehr die beiden jugendlichen Protagonisten stehen zentral, es dreht sich nun um den Nationalsozialismus und seine Verbrechen. Dies wirkt irritierend und auch deplatziert. Es entsteht der Eindruck, als begänne hier eine neue Geschichte. Dies ist schade und schmälert den Gewinn, welchen Jugendliche, die sich selber auf dem Weg der Ich-Findung bewegen, aus dieser ansonsten schön erzählten Geschichte ziehen könnten. Doch trotz dieses Mankos kann man das Buch als empfehlenswert bezeichnen.