zum Inhalt springen

vergrößern:
Boie, Kirsten:
Ringel Rangel Rosen
Hamburg: Oetinger 2010
192 Seiten
€ 14,95
Ab 12 Jahren
Übergangsbuch

Boie, Kirsten: Ringel Rangel Rosen

Schweigen ist nicht Gold

von Martina Schubert und Nicolai Hoffmann (2010)

Hamburg, Februar 1962: „Das Wasser ist schnell gekommen, man glaubt gar nicht, wie schnell das Wasser kommen kann.“

Mit großer Wucht und ohne Vorbereitung bricht die Sturmflut über das Leben der 13-jährigen Karin herein. Die Flut wütet aber nicht nur in ihrer häuslichen Umgebung, sondern auch in ihrem Innern. Sie entdeckt während der äußeren Katastrophe Bilder über die Kriegsbeteiligung ihres Vaters, die für sie eine ganz persönliche Katastrophe bedeuten.

Karin erlebt ihre Kindheit und anfängliche Pubertät nahezu als das reinste Paradies. Fernsehabende mit der Nachbarschaft, Baden mit Freunden in der Dove Elbe und Schwärmen für ältere Jungs füllen ihre Sommerferien voll aus. Der über 15 Jahre zurückliegende Krieg ist nur sehr vage in den Geschichten der Erwachsenen präsent. So hat Oma Domischkat ihre Heimat in Ostpreußen verloren, der Vater an der Ostfront gekämpft und die Mutter Bombardierungen miterlebt. Genaueres erfährt Karin nie über die Kriegsjahre. Erst als ihre Freundin Regina von einem Buch erzählt, beginnt Karin sich für die Zeit des Krieges wirklich zu interessieren. Nicht die Erlebnisse der Erwachsenen stehen dabei für sie im Vordergrund, sondern das Schicksal der Juden, über das Regina sie aufklärt und das Buch „Sternkinder“ berichtet. Doch ihre Fragen stoßen bei ihren Eltern nicht auf Anklang, sie wollen nichts davon gewusst haben und nicht darüber sprechen. „Ich hab dir vorhin schon gesagt, wer damals nicht dabei war, der soll mal gar nicht reden! Das könnt ihr heute doch gar nicht verstehen! Wir haben davon doch nichts gewusst! Woher denn auch wohl?“, so wehrt Karins Mutter die Fragen ab.

Die Vertreibung aus Karins Paradies der unbeschwerten Kindheit überfällt den Leser genauso wie Karin selbst. Scheinbar unvermittelt findet sie sich in einer Turnhalle mit anderen aus der Sturmflut Geretteten wieder. In sehr eindringlichen Rückblicken lässt Karin den Leser teilhaben an den Schrecken dieser Katastrophe. Doch weggespült sind nicht nur der Kaninchenstall und die Dächer der Nachbarhäuser; weggespült sind erst einmal auch die Gedanken, die Karin sich über die Kriegsbeteiligung ihrer Eltern gemacht hatte. Sie ist zu sehr mit sich selbst und der Bewältigung ihres eigenen, durch die Flut ausgelösten Traumas beschäftigt. Erst später, als sie mit ihrer Familie längst in einer neuen Wohnung lebt, beginnt sie wieder nachzuforschen und findet schließlich in einem alten Fotoalbum die Geschichte, die ihre Eltern nie erzählt haben. Es ist die Geschichte, die ihren geliebten und fürsorgenden Vater zum Täter, ihre Mutter zur Mitwisserin werden lässt.

Doch geht es in diesem Roman nicht in erster Linie um Geschichtsschreibung oder um eine Milieustudie der Nachkriegszeit. Vielmehr geht es um den Umgang der damaligen Gesellschaft mit den Traumata des Krieges, um das Schweigen der Beteiligten. Karin selbst erlebt durch die Flutkatastrophe am eigenen Leib, wie schwierig es ist, über persönliche Katastrophen zu sprechen und sich ihnen zu stellen. Das Erinnern ist plötzlich nicht so einfach. So wie Karins Eltern nicht mehr an ihre Kriegserlebnisse denken wollen, ist ‚Wegdenken’ während der Flutkatastrophe auch für Karin eine Option. Das Lied „Ringel Rangel Rosen“, anfangs noch Sinnbild für eine paradiesische Kindheit, wird zum beschwörenden Symbol ebenjenes ‚Wegdenkens’. So wie die Kraft des Wassers Karins häusliche Umgebung verändert hat, hat die Kraft ihrer Gedanken sie selbst verändert. Das genaue Hinschauen auch in die Vergangenheit ihrer Eltern wird für Karin unausweichlich. Sie wird erwachsen, löst sich von der Autorität ihrer Eltern, erfährt aber auch, dass sie mit ihrem Wunsch, ihre Gedanken mitzuteilen, an Grenzen stößt.

Kirsten Boie versteht es wieder einmal, dem Leser die Gedanken und Gefühle der Romanfigur sehr nahe zu bringen. Die unvermittelte Präsentation des Geschehens aus Karins Sicht macht ein distanziertes Lesen kaum möglich und lässt den Leser eintauchen in die Lebens- und Gedankenwelt der 13-Jährigen. Die authentisch wirkende Geschichte ist eindringlich und unmittelbar, aber auch sensibel und mit Gespür für den richtigen Ton geschrieben. Sie wird nicht nur Jugendliche zum Nachdenken, Nachfragen und Hinschauen anregen. „Sieh hin, Karin, sieh genau hin, es wird ja nicht aufhören: Was man gesehen hat, hat man gesehen, und was man gedacht hat, hat man gedacht.“

Leseprobe