Laguna, Sofie: Ich bin Bird
„Vogel“perspektive
von Nana Wallraff (2010)
„So ist das mit manchen Sachen – man möchte nicht, dass andere darüber reden, weil es einen sofort schmerzt. Wenn mich zum Beispiel jemand fragen würde, Wo ist denn deine Mutter, James?“
Der zwölfjährige James Burdell, genannt Bird, lebt mit seinem Vater in einer Kleinstadt nahe der australischen Metropole Sydney. Seine Mutter ist nach Europa „durchgebrannt“, als Bird noch ein kleiner Junge war. Erinnerungen an sie hat er nicht, und er leidet sehr unter dieser familiären Lücke. Zumal sein Vater mit der Versorgung der Kleinfamilie völlig ausgelastet ist. Der ehemalige Biker bemüht sich zwar redlich, wird aber Birds Sehnsucht nach mütterlicher Fürsorge nicht gerecht.
Bird kompensiert sein Sehnen durch eine leidenschaftliche Faszination für Vögel. Sein größter und gleichzeitig geheimer Schatz ist das Sachbuch „Vögel: Ein Naturführer“ von A.P. Davies. Aus diesem Buch weiß der Junge alles über die Vogelwelt, kennt den Gesang, das Nistverhalten und die Eigenarten jeder Spezies. Ständig fertigt er Zeichnungen seiner geliebten Vögel an. Von Davies, in dem er einen Artverwandten sieht, fühlt Bird sich verstanden. Der Junge verwendet das Naturbuch wie einen Ratgeber: Er sucht und findet darin vermeintliche Antworten und Lösungen seiner Probleme. Dabei bezieht er die Verhaltensweisen der Vögel stets auf sich selbst, auf „Bird“ – den Vogel.
Abgesehen von A.P. Davies gibt es in Birds Leben noch seinen besten Freund Sugar Boy, mit dem er stets seine Zeit verbringt. Die beiden Jungen genießen den Sommer, stellen allerlei Unsinn an und schwören sich im Dunkeln ihrer geheimen Höhle: „Beste Freunde für immer“. Und natürlich gerät Birds Welt aus den Fugen, als er erfährt, dass Sugar Boy mit seiner Familie nach Broome ziehen wird – 4000 Meilen von Bird entfernt. Bird fühlt sich erneut im Stich gelassen. Ihm ist klar: Auch Sugar Boy brennt nun durch. „Es war ein Vogel, den ich noch nie gesehen hatte. Ihm wuchsen Flügel aus dem Schnabel und Krallen aus dem Kopf, und der Rumpf war wie von einem Adler, aber nur die Knochen. Er flog direkt in die brennende Sonne.“
Der Junge weiß nicht, wie er reagieren soll, zieht sich mehr und mehr zurück. In Birds Vorstellung wird A.P. Davies sein einziger Vertrauter. Schließlich steht für ihn fest, dass er ebenfalls gehen wird, und zwar in die blauen Berge, wo er mit Davies einen Vogelpark gründen will. „A.P. Davies sagt, es gibt nichts Entschlosseneres als einen Zugvogel auf seiner Reise.“ Und so macht sich Bird auf den Weg in ein spannendes und gleichzeitig ernüchterndes Abenteuer, in dem er über sich hinauswachsen und seine Ängste überwinden muss. Am Ende findet der Junge, wonach er gesucht hat – wenn auch anders, als er es erwartet hatte.
Die Australierin Sofie Laguna stellt einen sympathischen und gleichzeitig ungewöhnlichen Protagonisten vor. Bird schildert sein Innenleben als Ich-Erzählung und greift dabei stets auf Analogien aus der Vogelwelt zurück. Die Vogelmetaphern, die das Buch wie ein roter Faden durchziehen, ermöglichen Laguna, Birds Innenleben zu thematisieren, ohne dabei rührselig zu wirken. Es gelingt der Autorin so, eine schwierige Situation besonders einfühlsam zu beschreiben: Obwohl sich alle Beteiligten bemühen, für Bird da zu sein, scheint das Trauma des Verlassen-Werdens für ihn unüberwindbar. Das es am Ende gelingt, ganz ohne Klischee und Kitsch, ist die große erzählerische Stärke Lagunas.
Auch die Nebenfiguren des Romans werden liebevoll dargestellt. Besorgt um den Jungen, wollen sie helfen, erreichen jedoch nicht das eigentliche, das tabuisierte Problem. Vor allem Birds Vater, der gutmütige, jedoch von der Bürde des Alleinerziehenden erdrückte Altrocker, wirkt tragisch in seinem Scheitern, seinem Sohn den nötigen Halt zu bieten. Und auch Sugar Boy versucht, seinem Freund beizustehen und ihre Freundschaft zu erhalten. Doch solange Bird sich nicht mit seiner Biographie abfinden kann, bleiben auch diese Bemühungen aussichtslos …
Sofie Laguna hat mit „Ich bin Bird“ ein unterhaltsames und berührendes Buch geschaffen. Die Autorin hat in ihrer Heimat bereits mehrere Kinder- und Jugendbücher veröffentlicht, für die sie zahlreiche Auszeichnungen erhalten hat. Nachdem ihr Debütroman für Erwachsene „Lichterloh“ 2009 in Deutschland veröffentlicht wurde, ist „Ich bin Bird“ Lagunas erstes Buch für eine jüngere Leserschaft, das auch auf dem europäischen Markt erscheint. Es bleibt zu hoffen, dass Übersetzungen ihrer übrigen Romane (gerne wieder von Ingo Herzke) folgen werden.