Thor, Annika: Entscheide dich!
Liebe oder Freundschaft?
von Anika Kultscher und Laura Klein (2010)
„Wenn du dich entscheiden müsstest […,] wofür würdest du dich entscheiden?“ In Annika Thors neuem Jugendroman „Entscheide dich!“ müssen sich die Protagonisten häufig dieser Frage stellen und Entscheidungen treffen, die ihr Leben prägen werden.
Jesper und Abbe sind seit Kindertagen befreundet. Abbe ist ein Außenseiter in seiner Klasse, denn keiner seiner Mitschüler will so wirklich etwas mit ihm zu tun haben. Nur sein bester Freund Jesper versteht ihn und hält immer zu ihm. Die beiden verbindet etwas ganz Besonderes. Ihnen wird nie langweilig, und gemeinsam können sie in Fantasiewelten eintauchen.
Doch dann verliebt sich der schüchterne Jesper in Annie. Sie ist ein sonderbares Mädchen, das für sein Alter bereits viel erlebt hat und schon sehr erwachsen wirkt. Annie wohnt abgeschieden mit ihrer psychisch kranken Mutter, bewältigt oft allein den Haushalt und unterstützt ihre Mutter so gut sie kann. Nach zögerlichen Annäherungsversuchen werden Jesper und Annie schließlich ein Paar. Fortan wollen die beiden jede freie Minute miteinander verbringen, und Jespers und Abbes Freundschaft leidet darunter sehr. Jesper hat kaum noch Zeit für seinen besten Freund, und die beiden beginnen sich voneinander zu distanzieren. Abbe versucht zunächst, sich in die Clique seiner Klassenkameraden zu integrieren, was ihm augenscheinlich gelingt. Doch dann verändert eine Nacht alles: Während Jesper Halloween gemeinsam mit seiner Freundin verbringt, gerät Abbe in eine fatale Situation. Er wird von seiner Clique zu einer grausamen Tat gedrängt. Die Situation eskaliert, und die getroffenen Entscheidungen kosten Abbe beinahe das Leben.
Thors Roman ist sehr facettenreich und spricht verschiedene Themen an, mit denen man sich als pubertierender Jugendlicher auseinandersetzen muss, so auch, den Mut zu haben, die richtige Entscheidung zu treffen und sich damit gegen Andere zu stellen. Während Abbe dies nicht tut und sich dem Gruppenzwang fügt, handelt Annie genau andersherum. Sie ist lieber kein Teil der Klasse und verteidigt offen ihre Meinung.
Die Autorin verwendet viel Raum darauf, die Hauptfiguren in ihrem Umfeld, ihren Gefühlen und Stimmungen detailliert zu beschreiben. Dadurch wirkt die Geschichte authentisch, und der Leser kann sich gut in die handelnden Personen und ihre Gefühlswelt hinein versetzen. Auch die sprachliche Einfachheit und die klare Struktur der Geschichte machen es dem Leser leicht, dem Geschehen zu folgen und sich mit den Protagonisten zu identifizieren.
Gleichwohl fällt es schwer, die Intention des Romans präzise herauszustellen. Es scheint, als habe Annika Thor unbedingt eine Vielzahl von Themen in ihrem Buch ansprechen wollen, wodurch die Geschichte an einigen Stellen nicht stimmig wirkt und der rote Faden verlorengeht. Besonders die Schlüsselszene gegen Ende des Romans stellt einen klaren Bruch in der Entwicklung der Geschichte dar und führt von dem bisher im Mittelpunkt stehenden Thema – die Gefährdung einer Freundschaft durch eine konkurrierende Liebesbeziehung – ab. Dennoch: Auch wenn die Spannungskurve im Buch zunächst eher flach verläuft, wird der Leser durch kleine versteckte Anspielungen darauf vorbereitet, dass es noch zu einer unvorhersehbaren Wende kommt.
Und unvorhergesehen ist diese wirklich: In der Halloweennacht kommt es zur Vergewaltigung eines Mädchens, an der auch Abbe beteiligt ist. Dieses dramatische Geschehen und Abbes Verwicklung darin werden zwar geschildert, aber in der Charakterisierung Abbes psychologisch überhaupt nicht vorbereitet, sodass der Leser nicht nachvollziehen kann, warum sich der eigentlich sympathische Abbe zu dieser Tat hinreißen lässt. Natürlich liegt dieser Plausibilitätsmangel auch in der gewählten Ich-Erzählsituation begründet: Der Leser erlebt alles nur aus der Perspektive Jespers, was verhindert, dass man die Gefühle und Gedanken der anderen Protagonisten verfolgen kann. Da die Szene nur vermittelt erzählt wird, endet sie abrupt, und die Tat bleibt ohne eine angemessene Auseinandersetzung stehen.
Dennoch gibt es in dem Buch auch sehr viele einfühlsame Passagen, die das Lesen lohnenswert machen und die Komplexität zwischen Freundschaft und der ersten Liebe für jedermann nachvollziehbar darstellen.