Gray, Keith: Ostrich Boys
Die Köpfe im Sand
von Teresa Brockmann (2010)
„‘Man kann niemanden kidnappen, der schon tot ist‘, sagte Kenny. Joe zuckte die Schultern. ‚Dann eben Urnen-Napper. Asche-Napper.‘ Kenny kriegte es mit der Angst zu tun. ‚Kann man dafür ins Gefängnis kommen?‘“
Die drei Freunde Kenny, Sim und Blake befinden sich mit einer gestohlenen Urne im Gepäck auf dem Weg Richtung Schottland, um dort ihrem Freund Ross – der bei einem Fahrradunfall gestorben ist – eine würdige Beerdigung zu ermöglichen: so, „wie Ross sie sich wirklich gewünscht hätte“. Die abenteuerliche Reise der drei Freunde beginnt im Osten Englands und endet in der schottischen Kleinstadt Ross, dem Ort, zu dem Ross gerne selbst einmal gefahren wäre. Die drei 15-jährigen Jungen sind überwältigt von Wut und Trauer, doch müssen sie sich auf ihrer turbulenten Fahrt zunehmend der Realität stellen – vor allem der Frage, ob Ross sich absichtlich das Leben genommen hat. Wer hat Schuld an Ross’ Tod? Seine Familie? Mr. Fowler, der Geschichtslehrer? Die Mitschüler, die Ross immer gemobbt und geschlagen haben? Oder Nina, Ross‘ Ex-Freundin, die mit ihm Schluss gemacht hat?
Der starke Zusammenhalt der Jungen und ihr gemeinsames Ziel treiben sie voran. Im Verlauf der Unternehmung enthüllen sich auch ihre jeweiligen Eigenarten und Charaktereigenschaften. Der Computerfreak Kenny ist von Haus aus sehr verwöhnt und lässt sich leicht beeinflussen. Während der gemeinsamen Reise versorgt er die drei Freunde weitgehend aus seiner Reisekasse, bis er diese aus Schusseligkeit im Zug vergisst. Der sprachgewandte Sim ist extrovertiert, gerne möchte er Sport an einer Universität studieren. Auch in Konfliktsituationen hält er mit seiner Meinung nicht hinterm Berg; dadurch eckt er häufig an und fühlt sich schnell angegriffen. Dies führt schließlich dazu, dass er sich kurz vor Ende der Reise von der Gruppe abwendet. Blakes Übergewicht ist für die anderen oft Anlass, sich über ihn lustig zu machen. Dabei ist er intelligent, sogar Klassenbester. Durch seine Denkanstöße sorgt er für die notwendige Verarbeitung des Verlustes des gemeinsamen Freundes Ross.
Die Spekulationen Sims, Kennys und Blakes um Ross‘ Tod lassen dessen wirkliches Leben verblassen. Von wem wurde Ross verraten? Warum hat er sich seinen besten Freunden nicht anvertraut? Nach einiger Zeit dämmert es den Dreien, dass Sie mehr mit Ross‘ Tod zu haben, als sie zunächst zuzugeben bereit sind: Kenny, der Ross am Tage des Unfalls bei einem Computerproblem nicht geholfen hat; Sim, der Ross nicht unterstützte, als dieser gemobbt wurde; Blake, der Ross die Freundin ausgespannt hat.
Der Leser ahnt nur nach und nach, was sich zugetragen hat, da die Geschichte aus der Ich-Perspektive Blakes erzählt wird und dieser zu Beginn nur zögerliche Einblicke in das Vorgeschehen gibt. Später reflektiert er dieses jedoch, und seine emotionale Seite kommt zum Vorschein, sein immer wiederkehrendes schlechtes Gewissen. Zu Anfang des Buches stellen sich die drei Jungen in pubertärer Selbstüberhebung noch als heldenhaft dar: Selbstlos wollen sie die Ehre des verstorbenen Vierten retten. Im Laufe der Geschichte können sie, die mit der Situation zunehmend überfordert sind, ihre Verleugnung der Tatsachen und ihre Projektionen des Geschehens jedoch nicht aufrechterhalten. Je mehr sie sich mit Ross‘ Leben beschäftigen, desto stärker werden sie mit der Wahrheit konfrontiert. Durch ihre Handlungen erfahren sie auch, wie sie von anderen wahrgenommen werden. Die psychologische Aufarbeitung ist gleichzeitig ein Reifungsprozess der Protagonisten, eine Reise in Richtung des eigenen Selbst.
Dem Leser wird ein breites Spektrum an Themen geboten. Die familiären Situationen der drei Freunde stellen sich als konträre Lebenswelten dar. Dazu zählt die Unterstützung der Eltern oder auch der finanzielle Rahmen. Blake und Kenny haben mehr Angst, zu ihren Eltern zurückzukehren, als Sim. Der Beschluss unter den Freunden, ihre Handys auszuschalten, um unerreichbar zu sein, löst Konflikte aus, wenngleich diese die Drei nicht zur Umkehr bewegen. Auch das Thema Liebe und Freundschaft wird beleuchtet, besonders nachdem die Freunde auf die drei Mädchen Kayleigh, Kat und Hayley treffen. Darf man sich in die Freundin seines besten Freundes verlieben?
Keith Gray wagt sich in seinem Roman „Ostrich Boys“ an das schwierige Thema des Selbstmords bei Jugendlichen. Das Wort „ostrich“ bezeichnet im Englischen einen Strauß – einen Vogel, der in misslicher Lage den Kopf in den Sand steckt. Die Augen vor unangenehmen Realitäten verschließen auch Blake, Kenny und Sim, die aus Angst und Hemmungen ihrem Freund Ross in schwierigen Situationen nicht beigestanden haben.
Die Sprache der Akteure ist alters- und zeitgemäß und zu den Personen passend. Die Wortwahl ist durch einen skurrilen, schräg-britischen Humor geprägt. Die Spannungskurve des Romans entwickelt sich nachvollziehbar und ist orientiert an den einzelnen Stationen der Reise. Während dieser geraten die Freunde immer wieder in nachgerade abstruse Situationen, deren detailfreudige Schilderung im Kontext der Geschichte entlastend wirkt. Dabei gewinnt die Darstellung der zunächst doch eher blass gezeichneten Jungen im Laufe des Romans zunehmend an Tiefe. So bietet das von Uwe-Michael Gutzschhahn treffsicher übersetzte Buch drei sehr unterschiedliche Charaktere, mit denen sich der Leser identifizieren kann. „Ostrich Boys“ ist wie ein echter „Roadmovie-Roman“: spannend und temporeich.