Leeuw, Jan de: Roter Schnee auf Thorsteinhalla
Stolz und Sturheit
von Carolin Ullrich (2010)
Die Wikingertochter Hallgerd ist schon in ihrer Jugend ein stolzes Mädchen. Sie ist ein Abbild ihrer attraktiven Mutter, einer irischen Prinzessin, die von Hallgerds Vater, dem Wikingerfürsten Thorstein, aus ihrer Heimat entführt worden war. Als Hallgerd klein war, stürzte sich die Mutter mit dem Pferd eine Klippe hinunter und entkam so dem Zwang zur Ehe. Stolz und stur ist auch Hallgerd. Gegen ihre Stiefmutter Gunnhildr hegt sie großen Groll, da diese sie nicht akzeptiert und Hallgerd als Bedrohung ansieht. Wegen ihrer roten Haare und ihres ungezügelten Temperaments teilen viele der Bewohner von Thorsteinhalla die Meinung der Stiefmutter, Hallgerd sei eine Hexe. Trotzdem verfallen vor allem die Männer des Dorfes ihren außergewöhnlichen Reizen, was die Frauen um Hallgerd eifersüchtig und noch misstrauischer macht. Die Situation zwischen der Stiefmutter und Hallgerd spitzt sich immer weiter zu, bis es zu einem grausamen Vorfall kommt: Ein alter Kampfgefährte von Hallgerds Vater warnt ihn vor einem Angriff seines Feindes Asmund und bietet ihm Unterstützung an, jedoch verlangt er dafür Hallgerd. Aus Angst, mit dem erst fünfjährigen Sohn des Kampfgefährten verheiratet zu werden, flieht die Fürstentochter. Als sie nach einigen Tagen reumütig zurückkehrt, bietet sich ihr ein schauerlicher Anblick: Die Halle wurde abgebrannt, und alle Bewohner – auch ihr Vater, die Stiefmutter und ihre Halbgeschwister – wurden grausam ermordet. In dieser blutigen Kulisse schwört Hallgerd Rache und verfolgt ab diesem Zeitpunkt den grausamen Plan, sich an Asmund, dem Mörder ihrer Familie, zu rächen ...
Jan de Leeuw hat mit „Roter Schnee auf Thorsteinhalla“ ein sehr komplexes und spannendes Werk geschaffen. Die Geschichte spielt zur Zeit der Wikinger, einer Zeit, die für die Menschen rau und hart war. Dies gilt besonders für Frauen, die auf den Höfen allenfalls Macht hatten, wenn sie wie Hallgerds Stiefmutter die Herrin eines Hofes waren. Frauen dieser Zeit hätten wahrscheinlich nie das vollbracht, was Hallgerd gelingt: Sie entkommt ihrem Erzfeind, baut eine eigene Halle auf und führt eine Schar entlaufener Sklaven an. Ihr Ziel verliert sie dabei nicht aus den Augen: Sie will den Tod ihres Feindes Asmund.
Passend zum Setting greift de Leeuw auf Elemente der nordischen Mythologie zurück: Bei der Gestaltung von Hallgerds Charakter scheint er sich an der Njáls Saga orientiert zu haben, einer Isländersaga der Edda, in der ebenfalls eine schöne, jedoch rachsüchtige und rücksichtslose, aber auch starke Protagonistin namens Hallgerd vorkommt, die die Männer in ihren Bann und ins Verderben zieht. De Leeuw bedient sich der starken Charakterzüge dieses Frauentypus und schafft mit Hallgerd eine Protagonistin, der keiner der Männer das Wasser reichen kann: Hallgerd ist stets schlauer, geduldiger und berechnender.
Die Geschichte von Hallgerd erzählt de Leeuw nicht durchgehend aus deren Sicht, sondern er wechselt häufig die Perspektive, so dass die Geschehnisse um Hallgerd immer wieder auch aus der Wahrnehmung anderer Personen geschildert werden. So wird jedes Kapitel des Buches als „Traum“ einer der Figuren betitelt. De Leeuw arbeitet besonders die Innensicht der Protagonisten heraus und ermöglicht so einen facettenreichen Blick auf die Figur der Hallgerd. Aber auch die Nebenfiguren erhalten auf diese Weise besondere Tiefe. Mitunter ändern sich die Erzählperspektiven auch innerhalb der Kapitel so unvermittelt, dass es nicht immer sofort offensichtlich ist, wessen Gedanken man gerade erfährt. Trotzdem schafft de Leeuw es, die Spannung aufrechtzuerhalten. Auch wenn die Sätze einfach strukturiert sind, zeichnet sich die Sprache des Romans durch Bildhaftigkeit und Metaphernreichtum aus.
Als besonders interessant zu bewerten ist die Zeichnung des Charakters der Hallgerd. Zu Beginn bietet Hallgerd den jugendlichen Lesern eine gute Identifikationsmöglichkeit, indem die Problematik um die Stiefmutter und Hallgerds Rolle als Außenseiterin aufgegriffen wird. Nach dem grausamen Mord an ihrer Familie ist auch ihr Hass gut nachvollziehbar. Im Verlauf der Handlung offenbart sich dem Leser jedoch zunehmend Hallgerds starke und berechnende Persönlichkeit. Mit der Einsicht in ihre inneren Abgründe geht eine zunehmende Distanz zur Protagonistin einher. Wenn sich Hallgerd schließlich die Möglichkeit zur Rache bietet und es zum Showdown kommt, ruft dies im Leser zumindest ambivalente Gefühle hervor.
Dem Romantext ist ein Zeitungsausschnitt nachgestellt über den Fund eines Wikingerschatzes durch einige norwegische Kinder. Alle genannten Fundstücke kommen auch in Hallgerds Geschichte vor und liefern so im Nachhinein einen möglichen Schreibanlass. Die Platzierung des Artikels am Ende des Buches bewirkt dabei, dass die Geschichte besondere Lebendigkeit erhält und zum Nachdenken anregt. Zudem bewirkt sie einen Bruch in der Rezeption: Nach der Lektüre der spannenden Wikingergeschichte holt de Leeuw seine Leser zurück in die Gegenwart.
Leser, die das Vorgängerwerk „Schrödinger, Dr. Linda und eine Leiche im Kühlhaus“ kennen, werden sicherlich von „Roter Schnee auf Thorsteinhalla“ überrascht sein, da sich beide Werke ganz grundlegend unterscheiden. In beiden Büchern ist es vor allem die Herausarbeitung stimmiger Charaktere, mit denen de Leeuw – er ist von Haus aus Psychologe – überzeugen kann.
Das Werk bietet geübten Lesern ab etwa 14 Jahren ein anspruchsvolles und herausforderndes, dabei aber spannendes Leseerlebnis. Auch ältere Leser, die sich für Geschichten über die Wikingerzeit interessieren, werden an „Roter Schnee auf Thorsteinhalla“ viel Freude haben.