Jünger, Brigitte: Der Tontsch
Dem Glück muss man auch trauen
von Veith Wacker und Gabriele Munkelt (2010)
„Unter diesem Dach versuchten Kinder zu vergessen, dass sie keine Mama und keinen Papa und nicht einmal eine Großmutter hatten. Und der Tontsch war derjenige, der am gründlichsten zu vergessen suchte.“
Der Tontsch, der eigentlich Anton heißt, lebt, seitdem er sich erinnern kann, in dem Waisenhaus Villa Rosa. Im Gegensatz zu allen anderen Kindern hat er jedoch noch eine Mutter, was ihn bei den anderen Kindern zum Außenseiter macht. Denn „Muttersöhnchen haben […] nichts auf dem Fußballplatz verloren!" Daher hätte auch der Tontsch lieber keine Mutter, weil er sich an seine erstens nicht mehr erinnern kann, sie ihn zweitens sowieso nie besucht und ihm drittens durch ihre Briefe nur Ärger macht. Lediglich seine Freundin Emma Fiedler findet: „Eine Mama zu haben ist nichts Schlechtes, sondern ein Riesenglück!“
Doch eines Tages taucht seine Mutter plötzlich auf und nimmt ihn einfach mit. Den Tontsch erwartet eine völlig neue Lebenssituation. War für ihn eine Mutter bis zu diesem Zeitpunkt eher ein lästiges Anhängsel, das man besser verschweigt, erlebt er nun wie schön es ist, doch eine zu haben.
Doch das Glück währt nur kurz, denn er erfährt, dass seine Mutter ihn hatte abgeben müssen, weil sie krank war. Da macht der Tontsch sich auf einmal Sorgen und wird mit seinen Ängsten und der Unsicherheit konfrontiert, ob er überhaupt den Vorstellungen der Mutter entspricht. Für ihn beginnt ein neuer Alltag in einer neuen Umgebung, in einer neuen Schule, mit neuen Kindern – und auch eine Zeit des Wartens, wenn seine Mutter arbeiten gehen muss. Um die Mutter zu schonen, erzählt er ihr nichts von den Konflikten mit den anderen Schülern und vor allem dem Lehrer, Konflikten, die er zu meistern hat und gar nicht alleine lösen kann. In seiner Ratlosigkeit findet er Trost auf dem Dach des Hochhauses, wie er ihn ähnlich auch schon auf dem Dachboden der Villa Rosa fand, wenn die Hänseleien der anderen Kinder zu schlimm wurden. Von dort konnte er den Himmel beobachten und sich in seinen Träumen verlieren. Denn „auf den Himmel konnte sich der Tontsch verlassen. Er war da, egal was auch geschah, und er wurde immer wieder blau, auch wenn das Weiß ihn einmal ganz bedeckte.“
Die Beziehung zwischen Anton und seiner Mutter ist anfänglich sehr zwiespältig. Zwar macht sich Antons Mutter Sorgen um ihn und möchte nur das Beste, aber sie bewirkt durch ihr Verhalten erstmal das Gegenteil. So schickt sie ihn z. B. mit einem selbstgenähten Hemd aus Kissenstoff und ihrer alten, ranzigen Ledertasche in die Schule und schürt damit noch die Hänseleien der anderen Kinder. Als die Situation in der Schule eskaliert, hat sie sich jedoch in ihrer Mutterrolle eingefunden und kämpft couragiert für ihr Kind.
Die freie Kölner Journalistin und Autorin Brigitte Jünger schildert in ihrem Kinderbuch „Der Tontsch“ sehr anschaulich die Gefühlswelt eines Jungen, der von heute auf morgen ein völlig neues Leben führen muss. Die Geschichte lebt vor allem durch muntere Dialoge, fängt Emotionen ein und spiegelt bildhaft die Zerrissenheit und Gedankenwelt des Jungen wider. Die Personen nehmen ausschließlich durch ihre Aussagen und Handlungen Form an, lediglich die Mutter wird genauer charakterisiert. Selbst auf dem Buchumschlag ist nur der Torso eines Jungen zu sehen. Ebenso gibt es kaum präzise Darstellungen der Settings; diese bleiben weitestgehend der Phantasie des Lesers überlassen. Der Schreibstils Jüngers ist an vielen Stellen ungewöhnlich. So werden fast alle wörtlichen Reden durch Ausrufezeichen beendet, wodurch sie jedoch an Stärke und Bedeutung verlieren.
Zeitweise wirkt die Geschichte vom Tontsch fast unreal. So scheint es zum Beispiel kein Heimpersonal zu geben. Als Anton von seiner Mutter im Heim abgeholt wird, steht er mit seinem kleinen Koffer allein vor der Tür. Die Begegnung ist auffällig kühl, es fehlt jegliches Begrüßungsritual, obwohl seine Mutter im weiteren Verlauf des Buches überschwängliche Herzlichkeit versprüht. Die ersten Worte seiner Mutter sind: „Ist das dein ganzes Gepäck? Stell den Koffer in den Anhänger. Und nimm den Helm! Dann setz dich hinter mich!“ Es werden nicht die typischen Erwartungen bedient; so gibt es z. B. kein Abschiedsfest für den Tontsch, und die Annäherung von Mutter und Sohn vollzieht sich doch recht unvermittelt. Die Geschichte passiert einfach, sie kann durch ihre Schnelllebigkeit punkten, gerät aber auf Grund fehlender Details rasch wieder in Vergessenheit.