Hagerup, Hilde: Zeit der Lügen
Ein amerikanischer Traum
von Jana Koof (2010)
„Freust du dich darauf, deiner Mutter zu sagen, dass du die ganze Zeit lügst?“ „Ich lüge nicht“, sagte Jonas. „Ich verziere.“
Wie verkraftet es ein achtjähriger Junge, wenn die eigene Mutter betrunken Auto fährt, dabei einen Menschen tödlich verletzt und daraufhin für viele Jahre ins Gefängnis muss?
Jonas Nilsen wohnt im norwegischen Krattbo und lebt mit genau diesem Trauma. Inzwischen ist er vierzehn Jahre alt und inszeniert sein Leben wie einen Film, in dem er Regisseur, Dramaturg und Darsteller zugleich ist. Dabei ist er in seinem Vorgehen mal mehr, mal weniger kontrolliert. Provokation ist seine ständige Begleitung, ein oftmals verstört wirkendes Auftreten die Folge. Die Inszenierung soll perfekt sein. Seiner Mutter berichtet Jonas an den Besuchstagen von seiner imaginären Freundin „Bobby“, seinen guten Schulleistungen, seinem „ganz normalen Leben“ eben. Seine Mutter ahnt nicht, wie gänzlich anders sich die Realität gestaltet, der Vater schweigt. Nun aber naht der Tag der Haftentlassung, und Jonas muss sich wohl oder übel der Frage stellen, was die Mutter von den Lügen und eben von der Realität halten wird. Zuhause lebt er mit und an seinem Vater vorbei und setzt diesen herab, wo er nur kann. In Jonas‘ Augen ist sein Vater ein unangenehmer, peinlicher Mensch, der es nicht schafft, seinem Erziehungsauftrag richtig nachzukommen und auch noch Freunde wie Persson hat, die zu nichts zu gebrauchen sind. Dabei ignoriert Jonas die Tatsache, dass sein Vater sich eigentlich stets darum bemüht, die Situation für sie beide so ‚normal‘ wie möglich zu gestalten, und stets für ihn da ist. Die Mutter hingegen wird von Jonas glorifiziert, für sie macht er sich schick, für sie bastelt er eine heile Welt. Vater und Mutter wieder ein normales Paar? Für Jonas undenkbar.
So stark sein Bestreben nach Harmonie mit der Mutter ist, so wenig Platz finden all die „Verzierungen“ in Jonas Alltag. Von guten Schulleistungen kann keine Rede sein, die Lehrer sprechen von „Lernschwierigkeiten“. Wirkliche Freunde hat er nicht, von einer Freundin ganz zu schweigen. In der Klasse fällt er vor allem dadurch auf, dass er sich und andere beständig in unangenehme Situationen bringt. „Pervo“ ruft ihm seine Mitschülerin Wendy nach. Jonas wiederum nennt Wendy mit ihrer eng sitzenden Kleidung, dem rosafarbenen Nagellack und dem kleinen Glitzersteinchen an ihrem Eckzahn seine „Jugendliebe“. Als er jedoch Tone, die neue Mitschülerin, kennenlernt, ändern sich seine Gefühle. Tone – durch sie scheint die imaginäre „Bobby“ zunächst eine tatsächliche Gestalt anzunehmen. Über sie vergisst Jonas sogar ein bisschen den Ärger über den Vater, den Frust über sein Leben mit der Lüge und den Glauben daran, dass in Amerika alles schöner ist und die Brüste der Amerikanerinnen größer sind als die der Norwegerinnen. Sein amerikanischer Traum rückt für kurze Zeit in den Hintergrund, die Realität scheint Jonas nun (er-)lebenswert. Nach anfänglicher Euphorie trifft allerdings eben diese Realität Jonas Nilsen wie ein Schlag ins Gesicht: Tone entpuppt sich als weniger „Bobby“ als von ihm erhofft, und die Mutter ist ihrem Mann weitaus mehr zugetan, als Jonas es sich je hätte vorstellen können oder wollen. So erfährt Jonas gleich in mehreren Hinsichten, dass sich Wunschvorstellungen häufig nur schwer der Realität anpassen lassen und dass es im Leben häufig ganz anders kommt, als man denkt. „In Amerika haben sie keine größeren Titten als hier bei uns“, nimmt Persson auf seine Art dem Jungen die Illusion. „Sie haben nur mehr Silikon“.
Hilde Hagerup stellt den jugendlichen Leser mit ihrem Roman gleich vor mehrere Fragen: Wer oder was ist Jonas Nilsen? Ist er gestört – oder nicht doch ein Jugendlicher mit normalen Pubertätsproblemen? Antworten auf die Fragen nach der Person „Jonas Nilsen“ findet man noch am ehesten in den Passagen, in denen Jonas über seine Mutter spricht. In diesen Teilen des Romans macht es das personale Erzählen dem Leser leichter, sich ein Bild von Jonas‘ Gedankenwelt zu machen. Ansonsten erlebt der Leser von „Zeit der Lügen“ einen Vierzehnjährigen, der uns auf unterschiedlichste Weise begegnet: mal hochgradig befremdlich, mal gerade so, dass sich Gleichaltrige durchaus in seinen Gedanken wiederfinden können. Und genau das ist es, was „Zeit der Lügen“ so empfehlenswert für junge Leser macht: der Reiz, nicht alles vorgelegt zu bekommen, sondern sich individuell mit der Geschichte von Jonas Nilsen auseinandersetzen zu müssen.