Jianhong, Chen: An Großvaters Hand
Mao, meine Familie und ich
von Anna Lena Brokamp und Julia Trebes (2010)
China – 1966. In einer Stadt im Norden des Landes, in einer grauen und tristen Straße, in einer kleinen dunklen Wohnung wächst ein kleiner Junge wohlbehütet auf. Der Dreijährige lebt mit seinen Eltern, Großeltern und seinen beiden älteren Schwestern auf engstem Raum zusammen. Da seine Eltern viel arbeiten, kümmern sich seine Großeltern liebevoll um ihren Enkel und seine Schwestern. Durch die Gehörlosigkeit seiner ältesten Schwester ist er interessiert daran, die Gebärdensprache und das Zeichnen von ihr zu lernen und sich auch dadurch auszudrücken. Er liebt seinen Großvater und lernt an seiner Seite die Welt kennen. Der kleine Junge, von dem hier die Rede ist, heißt Chen Jianghong. Er ist der Autor des autobiographischen Bilderbuches „An Großvaters Hand“, in dem er aus seiner Kindheit zu Zeiten der chinesischen Kulturrevolution erzählt.
Er erinnert sich an ein harmonisches und liebevolles Zusammenleben daheim – trotz Hunger und wenig Hab und Gut. Bis Mao eines Tages die „Große Proletarische Kulturrevolution“ ausruft. Ab diesem Zeitpunkt verändert sich Chens Leben. Er wird zu einem Rotgardisten, ist stolz auf seine Auszeichnung und die Uniform und fühlt sich in der Gemeinschaft wohl. Die diktatorische Revolution durch Mao ist jedoch für Chen wie für die gesamte Gesellschaft von dramatischen Veränderungen geprägt: Die einzige Lektüre ist das ‚Rote Buch‘ des Vorsitzenden Mao, Bilder werden vernichtet, traditionelle Gegenstände und kulturelle Ereignisse werden verboten … Sein Vater wird für mehrere Jahre zur Umerziehung aufs Land geschickt, und die Kinder werden zu eifrigen Rotgardisten ausgebildet.
Zehn Jahre lang beherrschen Gewalt und Propaganda den Alltag. Chen befindet sich in einem Zwiespalt zwischen Trauer und Stolz, doch durch seine kindliche Naivität kommen in ihm Begeisterung und Zugehörigkeitsgefühl auf. Um die Familie zu schützen und nicht auffällig zu werden, verschweigen die Älteren die eigentliche Grausamkeit der Revolution. Sie antworten auf Fragen, die die Revolution betreffen, in erster Linie mit Zitaten aus dem ‚Roten Buch‘ Maos oder verfallen, wie der Großvater, in Schweigen.
Nach alter chinesischer Art zeichnet Chen Jianghong seine Erinnerungen mit Tusche auf Reispapier. Diese Technik verweist – wie auch die gesamte Bildabfolge – auf die traditionellen chinesischen Rollbilder, und nicht selten hat man den optischen Eindruck, als sei deren Formensprache auf das Buchformat übertragen worden. Auf den 77 Seiten, in denen die Geschichte des heranwachsenden Chen geschildert wird, findet man sowohl ganzseitige Bilder als auch in der Art eines Comics angeordnete Panels; mitunter sind neben- oder untereinander gereihte Bildsequenzen eingeschoben, die spezielle Handlungsabläufe oder in sich geschlossene Teilgeschichten zeigen. Die Anordnung von Bildern und Text variiert auf den Seiten, sodass das Werk – auch durch die eigenwillige Bildanordnung – oft wie ein Fotoalbum wirkt. Damit schafft es der Illustrator, den autobiographischen Hintergrund seines Buches deutlich hervortreten zu lassen. Als Leser oder Zuhörer kann man den Textinhalt anhand der Bilder mitverfolgen und sogar zahlreiche Informationen darüber hinaus entnehmen. So drücken die Bilder oft die eigentliche Grausamkeit aus, die durch Chens kindliche Begeisterung und die Textpassagen nicht besonders hervorgehoben wird. Inhaltlich auffällig ist die einzige randlose Doppelseite, auf der ein kräftiges Rot in den Vordergrund gerückt ist. Diese Stelle markiert einen Umbruch im kulturellen Geschehen, im Leben Chens, aber auch in der Gestaltung der Bilder. Die zuvor eher düster wirkenden, in matten Farben und Grautönen gehaltenen Bilder bekommen jetzt mehr Farbe in Form eines satten Rottons, der Grundfarbe der chinesischen Revolution.
Chen Jianghong bringt ein außergewöhnliches Bilderbuch in die deutschen Bücherregale, das auf zwei Ebenen rezipiert werden kann. Zum einen kann sich der Betrachter in die Ereignisse der chinesischen Kulturrevolution einlesen, ebenso ist es möglich, nur die Erzählung auf sich wirken zu lassen. Erstaunlicherweise gelingt es Chen trotz des politischen Hintergrundes, die Geschichte für Kinder fassbar zu machen, indem er meistens aus der Sicht eines Kindes – aus seiner eigenen Sicht als Kind – erzählt. Es gibt aber auch durchaus Stellen, wo er als Erwachsener das Wort ergreift, kommentiert oder rückblickend erlebt. Durch den einfachen und dokumentarischen Schreibstil ermöglicht er dem Leser, die Geschichte selbst mitzuerleben.
Das Schaffen dieses Bilderbuches sei ihm erst mit einem Abstand von vierzig Jahren gelungen, sagt Chen Jianghong. Herausgekommen ist ein in jeder Hinsicht beeindruckendes, häufig genug bestürzendes Werk mit einem ganz ungewöhnlichen Sujet und einer ganz ungewöhnlichen Bildsprache.