Nesch, Torsten: Joyride Ost. Ein Roadmovie-Roman
Roadtrip ins Ungewisse
von Robert Schwettmann und Anna Theis (2010)
Es ist der Duft der Freiheit, der Tarik und Jana entgegenweht, als sie an einer Tankstelle einen fahrerlosen BMW samt Schlüssel entdecken. Binnen weniger Sekunden obsiegen der Reiz des Unbekannten und das Verlangen nach Flucht über die Vernunft.
Flucht aus der – so könnte man meinen – langweiligsten Stadt weit und breit: Wessenheim. Ja – wessen Heim eigentlich? Wessen Heim kann eine Stadt sein, in der „Träume an der Realität zerplatzen, wie Insekten an der Windschutzscheibe“? Tariks jedenfalls nicht. Was eine kleine Spritztour mit Nervenkitzel werden sollte, mündet in einer rasanten Verfolgungsjagd, die ihr Ende erst in einem Showdown an einem polnischen Strand findet.
Während Tarik und Jana weder die Pistole im Fußraum des gestohlenen Wagens noch das merkwürdige Klopfen aus dem Kofferraum ignorieren können, überwinden die Familien der beiden die ethnischen und religiösen Differenzen zwischen türkischen Muslimen und russlanddeutschen orthodoxen Baptisten. So schicken sich Tariks und Janas Brüder an, die beiden zurückzuholen. Gemeinsam mit dem Besitzer des BMWs nehmen sie die Verfolgung auf, und dank GPS-Unterstützung kommt das merkwürdige Trio den beiden Jugendlichen schnell gefährlich nahe und verfehlt sie nicht nur einmal um Haaresbreite.
Neschs Roman ähnelt der A1 zwischen Osnabrück und Münster: Ohne Abzweigungen folgt man dem konstruierten Verlauf, die kurzen, mitunter parallel ablaufenden Kapitel rasen vorbei wie Begrenzungspfeiler, und überrascht stellt man fest, dass man schon durch ist. Zwar erscheinen Tarik und Jana streckenweise etwas zu keck für ihr Alter, dem Lesevergnügen tut dies aber keinen Abbruch: Unterhaltsam und kurzweilig ist ihre Geschichte allemal. Dafür sorgen die schlagfertigen und wortgewandten Dialoge, die skurrile Begegnung mit einer rüstigen Oma und ein durchgehend gutes Gespür für Situationskomik während der Verfolgungsjagd.
Mit der Hauptfigur Tarik hat Nesch eine vielseitige Persönlichkeit geschaffen, die dem jugendlichen Leser viel Raum zur Identifikation bietet. Lernt man den Protagonisten zu Beginn des Buches als rebellierenden, die Schule schwänzenden und sich prügelnden Teenager mit der großen Klappe kennen, so zeigt er sich im weiteren Verlauf von einer anderen Seite. Der Leser, der aufgrund der gewählten Ich-Perspektive Tariks gesamte Gedankenvorgänge miterlebt, entdeckt in ihm plötzlich einen auch mal unsicheren und im Umgang mit dem anderen Geschlecht unbeholfenen, jedoch auch nachdenklichen, selbstironischen und durchaus sympathischen Protagonisten. Das Charakterprofil der weiblichen Hauptfigur wirkt im Gegensatz dazu deutlich blasser: Zwar braucht sich das schlagfertige Mädchen nicht vor dem Schmalspurmacho Tarik zu verstecken, über seine Sorgen, Träume und Wünsche erfährt der Leser aber wenig, da Jana nur in den Szenen auftritt, die aus Tariks Perspektive erzählt werden.
Tariks Ich-Erzählung wird – zunehmend schneller und rasanter – unterbrochen von Passagen, die die hektische Verfolgungsjagd schildern und in auktorialer Erzählweise präsentiert werden. Auch bei den Nebenfiguren verzichtet Nesch auf simple Schwarz-Weiß-Zeichnungen. Jede von ihnen stattet er mit einer lebendigen, von verschiedenen Motiven bewegten Persönlichkeit aus. So verwandelt sich der merkwürdige, im Kofferraum des gestohlenen BMWs liegende Gemüsehändler zwar in einen Auftragskiller – allerdings mit sympathischen Wesenszügen und den beiden Ausreißern durchaus wohlgesonnen.
Das Freiheitsmotiv, die dialogische Struktur und die durch die schwungvollen Wechsel der Erzählperspektive cineastisch anmutende Szenenhaftigkeit unterstreichen den ‚Roadmovie‘-Charakter dieses Romans, für dessen ‚musikalische‘ Untermalung die fiktive Band „Gossen Posse“ sorgt. In dieses Grundgerüst bettet der Autor eine breite Auswahl typischer, aber eher beiläufig behandelter Jugendthemen ein (Liebe, Schule, Eltern, Zukunftsperspektive, Musik, Clique).
Mit seinem ersten Roman für eine jüngere Leserschaft lädt der Autor Thorsten Nesch ein zu einem spannenden Joyride – ein Angebot, das man nicht abschlagen sollte. Mit viel Witz, einer Überraschungskiste voller unerwarteter Ereignisse und einer sehr sympathischen Hauptfigur wird die spannende Spritztour zu einem Lesevergnügen für Leser ab zwölf Jahren.