Mai, Manfred (Text) und Jochen Stuhrmann (Illustration): Nikodemus und das Mäusewunder
Wie eine Maus eine Katze fängt
von Anne Dammer und Anna Theis (2010)
Beeindruckend ist bereits die erste Doppelseite dieses Bilderbuches: Der große, getigerte Kater sitzt auf dem Mauseloch und versperrt der kleinen Maus den Weg, hebt drohend die Pfote. Für sie gibt es scheinbar kein Entkommen …
Luzili sitzt in der Falle und läuft Gefahr, anstatt mit einem leckeren Stück Käse im Mauseloch zu verschwinden, selbst als Hauptgericht zu enden. Pfiffig, wie die kleine Maus jedoch ist, schlägt sie dem hungrigen Kater Nikodemus einen Deal vor: „Wenn du mich leben lässt, zeige ich dir ein paar Weltwunder.“ Anfangs skeptisch, willigt der Kater ein, und es beginnt eine kleine Reise durch die Welt der Mäuse- und Katzenwunder.
Als erstes „Weltwunder“ besorgt die kluge Maus dem Kater einen Fisch, den dieser genüsslich verspeist. Das zweite „Weltwunder“ kündigt Luzili als größte Katze der Welt an. Der ungläubige Nikodemus ist davon überzeugt, dass es keine größere Katze als ihn geben könne, und erschrickt über die tatsächliche Größe des Tigers im Zoo. Zuletzt lädt die Maus den Kater zu einer Achterbahnfahrt ein. Sie selbst hat großen Spaß, während die rasante Fahrt bei Nikodemus nur Angst und Übelkeit hervorruft. Um sich zu revanchieren, nimmt der Kater Luzili an einen Ort mit, der für sie einem Weltwunder gleicht. Er trägt sie nachts auf das Dach eines Hauses, wo sie dem Himmel so nah kommt wie noch nie zuvor.
Während der gemeinsamen Unternehmungen entwickelt sich zwischen beiden Figuren langsam eine Freundschaft. Trotz ihrer Jäger-Beute-Beziehung gelingt es Luzili und Nikodemus, gegenseitiges Vertrauen aufzubauen: Nikodemus macht keinerlei Anstalten mehr, die Maus zu fressen, und diese nutzt ihrerseits nicht die Chance, sich aus dem Staub zu machen. Der Autor Manfred Mai verdeutlicht in seiner Geschichte, dass äußere Merkmale sowie gegebene Normen für eine Freundschaft letztlich unbedeutend sind. Vielmehr sind es Eigenschaften wie Mut, Einfühlsamkeit, Respekt und die Freude, Erlebnisse miteinander zu teilen, die Nikodemus und Luzili einander näherbringen. So sorgt sich die Maus liebevoll um ihren großen Freund, als die Achterbahnfahrt diesen sehr mitgenommen hat.
Eckige Kanten, gerade Linien, kein Fell zu erkennen – Jochen Stuhrmanns markanter Zeichenstil versetzt den Betrachter quasi in eine Spielzeugwelt. Von scheinbar hölzernen Figuren umgeben, findet er sich mal auf Augenhöhe mit diesen wieder, mal blickt er als außenstehender Beobachter auf das gesamte Geschehen, ähnlich wie in ein Puppenhaus. Farblich sind die mit kurzem Text versehenen Bilder in Erdtönen gehalten. Insgesamt wirken die Illustrationen keinesfalls überladen, dennoch lassen sich auf jeder Doppelseite neben der Hauptszene stets spannende oder witzige Details entdecken. Beispielsweise befinden sich Nikodemus und Luzili am Ende der Geschichte auf einem Hausdach und betrachten den Nachthimmel, während sich im Hintergrund ein Frosch von einen anderen Dach aus ein Fußballspiel unter Flutlicht ansieht. Durch geschickten Perspektivwechsel wird der Leser in das Geschehen hineingezogen. In einem anderen Bild befinden sich die beiden Hauptfiguren vor einer Mauer, die aufgrund der gewählten Froschperspektive zunächst als unüberwindbares Hindernis erscheint. Die nächste Szene zeigt den Kater mit der Maus im Maul auf ebenjener Mauer und lässt den Betrachter scheinbar über der Stadt thronen. Auch der Tiger im Zoo ist überdimensional groß darstellt, wodurch man sich in Nikodemus’ Situation versetzen kann und einem dessen Angst deutlich vor Augen geführt wird. Darüber hinaus spielt der Zeichner gekonnt mit umkehrten Größenverhältnissen, um den Fokus des Betrachters auf das Wesentliche zu lenken. Besonders gelungen ist die Darstellung der Achterbahnfahrt. Stationenbilder zeigen die unterschiedlichen Gesichtsausdrücke der Katze zu bestimmten Zeitpunkten der rasanten Fahrt, die gleichzeitig als Simultanbild präsentiert wird. Die humorvolle Darstellung der Mimik lässt den Betrachter nachfühlen, wie es Kater Nikodemus in der Achterbahn ergangen ist. Während die Illustrationen zu Beginn der Geschichte noch den Abstand zwischen den beiden Figuren und deren gegenseitiges Misstrauen unterstreichen, so ändert sich im Verlauf der Handlung ihre Mimik, und die beiden rücken immer näher zusammen.
„Nikodemus und das Mäusewunder“ erzählt die Geschichte vom Beginn einer wunderbaren Freundschaft. Das atemberaubend illustrierte Bilderbuch ist sowohl zum Vorlesen und gemeinsamen Anschauen als auch zum selbständigen Betrachten für Kinder ab vier Jahren geeignet.