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Titelbild
Janne Teller:
Nichts. Was im Leben wichtig ist. Roman
Aus dem Dänischen von Sigrid Engeler
München: Hanser 2010
144 Seiten
€ 12,90
Ab 14 Jahren
Jugendbuch

Teller, Janne: Nichts. Was im Leben wichtig ist. Roman

Nichts. Fragen. Über Fragen. 

von Jane Eschment (2010)

Welche Inhalte werden in einem Jugendbuch präsentiert, sodass es kurz nach der Veröffentlichung als Schullektüre verboten wird? Sexuelle Freizügigkeit, Gewaltverherrlichung, Verhetzungen? Nichts dergleichen ist in Janne Tellers erstem Jugendroman „Nichts. Was im Leben Bedeutung hat“ zu finden. Der Skandal, den das Buch im dänischen Heimatland der Autorin nach seinem Erscheinen vor zehn Jahren auslöste, beruht auf einer gänzlich anderen Thematik. Es geht um die Frage nach dem Sinn des Lebens. Und darum, ob man diese Frage stellen darf. Und soll. Und muss.

Am ersten Tag nach den Sommerferien kehrt die Klasse 7a in ihren wohlgeordneten Schulalltag zurück. Alles scheint so steril und normal wie immer. Doch plötzlich steht Pierre Anthon von seinem Platz auf und wirft seinen Mitschülern und Mitschülerinnen einen Satz an den Kopf, der das Leben aller verändern wird. „Nichts bedeutet irgendetwas. Das weiß ich schon lange. Und deswegen lohnt es sich auch nicht, irgendetwas zu tun.“ Ganz ruhig, beinahe gleichgültig packt er seine Sachen zusammen und verlässt den Klassenraum. Die Tür bleibt offen hinter ihm zurück. „Mir kam die angelehnte Tür wie ein breit grinsendes Maul vor, das mich verschlingen würde, wenn ich mich dazu verlocken ließ, Pierre Anthon nach draußen zu folgen“, berichtet die Ich-Erzählerin. Fortan sitzt Pierre Anthon tagein tagaus auf einem Pflaumenbaum und bewirft seine verunsicherten Klassenkameraden mit reifen Früchten und existentialistischem Gedankengut. Von einem Tag auf den anderen gerät die ach so geordnete Welt der Mittelschichtkinder in Taering, dem Vorort einer dänischen Provinzstadt, ins Wanken. Sauber verputzte Reihenhäuser spiegeln die vorgegebene Geradlinigkeit der vorherrschenden Lebensphilosophie wider. – Aus den Kindern soll mal etwas werden. Und „etwas werden, bedeutete jemand werden.“ Doch was bedeutet dieses „jemand“? „Selbst wenn ihr etwas lernt, damit ihr glaubt, ihr könntet etwas, ist immer jemand da, der das besser kann als ihr.“ Pierre Anthon erzielt mit seinen nihilistischen Ansichten immer schwerere Treffer, denn die vorbeiziehenden Jugendlichen fühlen sich zunehmend verunsichert in ihren vermeintlichen Ansichten, im Sinngehalt ihres Lebens, in ihrer Existenz.

Die Angst vor dem Nichts fordert die Jugendlichen heraus, Pierre Anthon zu beweisen, dass dem Leben eine Bedeutung innewohnt. Nicht zuletzt um die eigenen leisen Zweifel im Keim zu ersticken, ob ihr Mitschüler doch Recht haben könnte, beschließen sie, in einem stillgelegten Sägewerk einen „Berg aus Bedeutung“ zu errichten.

Zunächst beginnt das Projekt beinahe harmlos, fast kindlich und naiv. Doch es herrscht keine Freiwilligkeit, jede Entbehrung eines Gegenstandes berechtigt die jeweilige Person, ein neues Opfer auszuwählen. Zu den ersten Opfergaben zählen die neu erstandenen, grünen Sandalen der Ich-Erzählerin Agnes, Dennis‘ Angelrute und Lauras geliebte Ohrringe. Mehr und mehr greift das Gesetz der Überbietung: Je persönlicher, je immaterieller, desto bedeutungsvoller. In erschreckender Weise steigert sich die Gnadenlosigkeit. Gerda muss ihren Hamster abgeben, Hussein seinen Gebetsteppich, Anna-Li ihre Adoptionsurkunde, und schließlich wird Elise gezwungen, den Sarg ihres verstorbenen kleinen Bruders vom Friedhof ins Sägewerk zu überführen. So wächst der „Berg der Bedeutung“ stetig – und mit ihm die Spirale der Gewalt. Die Gruppendynamik gipfelt in Fanatismus, als Sophie ihre „Unschuld“ opfern muss und der begnadete Gitarrenspieler Jan-Johan daraufhin seinen Zeigefinger. Als das Projekt der Klasse auffliegt, wird das Interesse der nationalen und internationalen Presse geweckt, und schließlich bietet ein berühmtes New Yorker Museum den Jugendlichen ein horrendes Kaufangebot: Der Berg aus Bedeutung wird zur Kunst stilisiert. Das anfängliche Entsetzen des Umfeldes wandelt sich angesichts des Ruhms in Stolz. Die Entscheidung für einen Verkauf ist von der Gruppe schnell gefällt, und damit schrumpft der Berg an Bedeutung zu einem Nichts zusammen. Zumindest in den Augen von Pierre Anthon: „Wenn dieser Misthaufen da wirklich etwas bedeutet hat, dann hättet ihr das doch wohl nicht verkauft?“ beendet Pierre Anthon seine Reden und provoziert damit die endgültige Eskalation zwischen den Jugendlichen. Im Sägewerk kommt es vor dem Bedeutungsberg zu einem infernalischen Endszenario.

Die Frage nach der persönlichen Bedeutung im Leben kann in ihrer Komplexität kaum literarisch klarer formuliert werden, als Janne Teller dies in präziser und doch poetischer Sprache vorführt. Das Setting des Romans, der Vorort Taering und das stillgelegte Sägewerk, erinnert an ein steriles Laboratorium, in dem die Versuchsbedingungen und die beteiligten Personen zunehmend außer Kontrolle geraten. Die eigendynamische Verselbstständigung des Experiments rufen Erinnerungen an Morton Rhues Jugendbuch „Die Welle“ hervor. Thematische Parallelen, wie der Verlust der kindlichen Unschuld unter zunehmender Gewaltbereitschaft, finden sich auch in William Goldings Klassiker „Der Herr der Fliegen“. Ausgeschmückte, romanhafte Szenen im Buch sind rar, die retrospektive Betrachtung der Geschehnisse durch die Ich-Erzählerin Agnes bleibt nüchtern und teilweise verstörend kalt. Genau dieser literarische Stil harmoniert mit der existentiellen Fragestellung des Buches.

Sicherlich, Janne Teller provoziert mit ihrem Buch. Doch sie provoziert vor allem jene, die davor zurückschrecken, ihr Leben in Frage zu stellen, aus Angst plötzlich keine Antworten mehr zu finden. Und das sind nicht die Jugendlichen! Angst haben die Erwachsenen, die ihr Leben willkürlichen Konventionen unterworfen haben, um an den komplexen Anforderungen unserer Gesellschaft nicht kaputtzugehen. Angst haben die Erwachsenen, die den Sinn vom eigenen Lebenskonzept nicht anzweifeln wollen, weil es vielleicht längst zu spät sein könnte, getroffene Entscheidungen zu annullieren. Angst vor kritischen Fragen, Angst vor der Antwortlosigkeit, Angst vor Selbsttäuschung. Das Argument von PädagogInnen, Eltern und VertreterInnen der Kirche, das Buch mute den jugendlichen LeserInnen zu viel zu und berge die Gefahr einer negativen Lebenseinstellung, erinnert an die voraufklärerische Angst vor dem Denken und diffamiert das geistige Potential von Jugendlichen. Dem lebenslangen Prozess der Identitätsfindung wohnt die Antwortsuche nach dem persönlichen Lebenssinn inne, und nicht zuletzt sind philosophische Fragen bereits der kindlichen Entwicklung immanent. Wann sonst, wenn nicht im jugendlichen Alter, sollten Menschen die Möglichkeit ergreifen können, ihre eigene, ganz persönliche Bedeutung des Lebens zu suchen und Konzepte und den Konformismus ihrer Umwelt laut in Frage zu stellen?

Janne Teller enthält ihren LeserInnen eine versöhnliche, eine angenehme, weil einfache, Lösung der Geschichte vor. Es gibt keine einfachen Antworten. Und es gibt vor allem keine definitiven Antworten. Und so ist es großartig, dass es diesem Buch gelingt, weiterführende Fragen zu provozieren: Welche Werte taugen als Richtlinien für unser gesellschaftliches Zusammenleben? Geht es in unserem Leben um Leistung, um Erfolg, gar um Statussymbole? Wie tolerant stehen wir in unserer Gesellschaft und in unserem persönlichen sozialen Mikrokosmos verschiedenen Konzepten der Lebensgestaltung gegenüber? Wo ziehen wir Grenzen im menschlichen Handeln? Kann ein Lebenssinn, der das Leben kostet, noch sinnhaft sein? Spätestens an diesem Punkt wird deutlich, dass die Kategorisierung von Janne Tellers Roman als Jugendbuch eine formale Einschränkung impliziert, die hoffentlich durch eine breite, generationenübergreifende LeserInnenschaft gebrochen wird. Es wird interessant sein, wie dieses Buch auf den Teil der Jugendlichen und Erwachsenen in Deutschland wirkt, die in einer Zeit von Individualisierung und pluralisierten Lebensformen offenbar wieder vermehrt auf der Suche nach verbindlichen Werten sind.

„Nichts. Was im Leben wichtig ist“ macht Mut, nach dem eigenen, ganz persönlichen Sinn zu suchen. Und das darf man nicht nur – man sollte! Man darf sich auch als Erwachsener eingestehen, antwortlos zu bleiben, aber man sollte Kindern und Jugendlichen das Recht auf ein Hinterfragen niemals verwehren. Zu Recht wurde Janne Tellers Buch ein Jahr nach dem Verbot mit dem dänischen Kinderliteraturpreis des Kultusministeriums und mittlerweile auch mit internationalen Preisen honoriert. Man kann sich nur wünschen, dass dieser internationale Bestseller auch in Deutschland eine breite Öffentlichkeit findet, zu Diskussionen anregt und sich als Schullektüre etabliert!

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