Günther, Herbert: Roberts Land. Eine Familiengeschichte
Heimat zwischen Himmel und Erde
von Evelyn Hinz (2010)
Der Krieg ist vorbei, und für den bereits in der Nachkriegszeit geborenen Robert, den Protagonisten der Kindheitsgeschichte „Roberts Land“, scheint das Leben auf den ersten Blick in bester Ordnung zu sein: Er wohnt mit seinen Eltern, Geschwistern und einem Großelternpaar auf dem Land und ist damit sehr zufrieden. Seine Kindheit ist fast wie aus dem Bilderbuch: Tiere und Heuschober, Geheimverstecke in alten Bäumen, Höhlen als Basislager für Reibereien mit der gegnerischen Bande, nächtliche Gespräche mit seinem Bruder über alles, was Realität und Phantasie ermöglichen, eine liebevolle Familie und Freiheit.
Dennoch ist der Krieg für den sensiblen und einfühlsamen Robert alles andere als bloße Geschichte. Als einziges „Friedenskind“ unter seinen Geschwistern erlebt er das Fortdauern der Vergangenheit in seiner Familie. Der Vater erzählt oft und lebhaft von den schrecklichen Erlebnissen im Krieg, sodass dieser bei Robert beinahe so gegenwärtig ist, als wäre er selbst dabei gewesen. So denkt er bei einem Scheunenbrand der Nachbarn zuerst an einen Angriff der Russen und die Wiederkehr des Krieges. Einzelne Aspekte dieses Ereignisses ordnet er, fast routiniert, in das vermeintliche Kriegsgeschehen ein. Reflektiert und sensibel denkt er darüber nach, wie seine Mutter ihn demnächst weinend über den Beginn des Krieges informieren wird und dass ihm bis dahin nur noch wenige Minuten in der Hoffnung auf Frieden bleiben.
Der als Drehbuchautor für Kinderfilme und als Übersetzer bekannt gewordene Autor Herbert Günther (Jg. 1947) schildert in zehn kurzen Erzählungen die Geschichte von Roberts Familie vor und während des Krieges: wie der Vater Soldat wurde, dessen Gefühle und Wahrnehmungen während des Krieges und die Erlebnisse der Mutter in einer Zeit, die von Armut, Verlust und Hoffnung gekennzeichnet war.
Diese Rückblicke, die auch Robert aus den Erzählungen seiner Familie kennt, helfen dem Leser, die Gedanken des Protagonisten nachzuvollziehen. Besonders dominante Motive sind hierbei Schuld und Verzeihen, mit denen auch Robert in seinem Leben auf verschiedene Weise konfrontiert wird. Aber auch die Frage nach Familie und Heimat spielt für Robert eine wichtige Rolle. So besteht seine Familie aus den verschiedensten Charakteren, ist über ganz Westdeutschland und die „russische Zone, die jetzt DDR hieß“, verstreut und vertritt unterschiedliche politische Ideologien.
In Roberts Land, seiner Phantasiewelt, deren geheime Landkarte im Verputz seines Zimmers verborgen ist, ist alles viel einfacher, nichts unmöglich und genauso, wie es Roberts Meinung nach sein und gewesen sein sollte. Und vielleicht wird dieses Land für Robert einmal nicht nur in der Vorstellung existieren, denn er beginnt zu spüren, dass er, gehalten von seiner Familie, auch der Welt hinter dem heimatlichen Wald optimistisch entgegentreten kann, der Welt, in der alles möglich ist, das Gute wie das Böse.
„Roberts Land“ ist in mehreren Ebenen aufgebaut. So spielt die Haupthandlung gut zehn Jahre nach Kriegsende in Roberts Heimatdorf Erlenrode. Die Rückblenden, in denen es um die Erlebnisse von Roberts Familie in der Vergangenheit geht, haben stets einen Bezug zu dem, was Robert gerade in der Handlungsebene erlebt, und führen den Leser zunehmend in den Krieg und in die Gefühlswelt der Protagonisten ein.
Günther bedient sich einer einfachen, gut verständlichen Sprache, die gleichwohl intensiv, eindringlich und oft auch poetisch ist. Der Autor stellt auf sensible Weise die Gefühle der Protagonisten dar, erschließt dem Leser die Welt des Krieges und der Nachkriegszeit, ohne seine Figuren, sondern vielmehr den Krieg, zu verurteilen; er schildert nachdrücklich, aber nie reißerisch die Leiden und Hoffnungen der Menschen.
„Roberts Land“ ist – durch die ‚altmodische’ Umschlaggestaltung mit vignettenartigen Schattenrissen auf kobaltblauem Grund (Künstler: Aljoscha Blau) – schon rein äußerlich ein ganz besonderes Buch. Die Kindheitsgeschichte lädt, ohne aufdringlich zu sein, zum Nachdenken, Mitfühlen, Verstehen, Träumen und manchmal auch zum Schmunzeln ein. Trotz der teilweise bedrückenden Thematik sind die Erzählungen getragen von Hoffnung und Optimismus, die zum Aufbruch in das Abenteuer Leben einladen.