Sáenz, Benjamin Alire: Aristoteles und Dante entdecken die Geheimnisse des Universums. Roman
Die Philosophie des Erwachsenwerdens
von Anika Straub (2015)
Angel Aristoteles Mendoza ist fünfzehn Jahre alt, Sohn von Mexikanern und lebt im texanischen El Paso nahe der mexikanischen Grenze. Da er den Namen Angel schrecklich findet, lässt er sich Ari nennen. Ihm ist bewusst, dass Aristoteles ein berühmter Philosoph war. Er denkt, dass die Leute deshalb von ihm Großes erwarteten und er sie somit nur enttäuschen könne. Ari ist gelangweilt und unglücklich. Es gibt zu viele Menschen und Dinge im Leben, die er nicht versteht, zu viele Geheimnisse des Universums, die sich nicht ergründen lassen, allen voran das Geheimnis seines eigenen Selbst. Der Junge lebt hauptsächlich in seinen Gedanken. Er ist ein Einzelgänger und hat keine Freunde. Er ist ein Denker, ohne wirklich auf Antworten zu stoßen, weshalb er von sich selbst keine besonders hohe Meinung hat.
Ari ist ein Einzelkind, ohne wirklich ein Einzelkind zu sein. Seine Zwillingsschwestern sind zwölf Jahre, sein Bruder ist elf Jahre älter. Die Schwestern behandeln ihn eher wie einen Sohn, er kommt sich vor wie das „Familienmaskottchen“. In Aris Familie wird wenig geredet. Seine Mutter ist Lehrerin, und sein Vater ist ein Vietnamkriegsveteran, „der einen ganzen Krieg für sich behält“. Sein Bruder ist im Gefängnis, aber auch darüber wird nie gesprochen. Der Name seines Bruders wird nie erwähnt, seine Existenz wird geradezu geleugnet. Ari hat das Gefühl, dass diese Umgebung des Schweigens ihn zu einem wortkargen Menschen gemacht hat, der mit seinen Gefühlen nicht umgehen und diese vor allem nicht aussprechen kann. Dennoch lieben seine Eltern ihn und sind an seinem Wohlergehen sehr interessiert. Die Wortlosigkeit ist keiner bösen Absicht geschuldet; es ist vielmehr Hilflosigkeit, die Aris Eltern schweigen lässt, das Unvermögen, mit bestimmten Dingen umzugehen.
In Aris Leben gibt es keine Gleichaltrigen, mit denen er sich austauschen könnte. Er fühlt sich falsch in seinem Körper, ist in sich gekehrt und traurig. Zu anderen Jungen fühlt er sich nicht zugehörig, gemeinsames Duschen findet er schrecklich, und wenn er hört, wie abwertend manche Jungs über Mädchen sprechen, dann schämt er sich sogar seines Geschlechts. Er ist nicht wie sie.
Im Schwimmbad trifft er eines Tages – die Geschichte spielt in den Jahren 1987/88 – auf den gleichaltrigen Dante, der ihn fragt, ob er ihm das Schwimmen beibringen solle. Dante trägt ebenfalls den Namen eines berühmten Philosophen, und diese Erkenntnis schafft gleich Verbundenheit zwischen den beiden Jungen. Sie können zusammen lachen und zum ersten Mal erfährt Ari, was Freundschaft bedeutet – die einzigen unbeschwerten und vergnügten Momente hat Ari in Dantes Gesellschaft.
Dante ist ein Professorensohn, ein Intellektueller, der sich für Kunst und Literatur interessiert. Durch ihn fängt Ari an, sich mit Lyrik zu beschäftigen, die beiden Jungen philosophieren über Gott und die Welt, und Ari bewundert Dante für dessen Klugheit. Dante kann sich überall anpassen und hat eine natürliche Leichtigkeit, mit dem Leben umzugehen. Er ist der Optimist des Duos, ein sehr feingeistiger junger Mann, der äußerst sensibel ist und keine Schwierigkeiten hat, dies auch zu zeigen. In Dantes Familie wird sehr liebevoll miteinander umgegangen. Man umarmt und küsst einander zur Begrüßung, was für Ari zu Anfang sehr irritierend ist und ihn umso mehr anregt, über seine eigene Familie und deren Umgehensweise nachzudenken.
Benjamin Alire Sáenz’ Roman „Aristoteles und Dante entdecken die Geheimnisse des Universums“, eindrucksvoll übersetzt von Brigitte Jakobeit, behandelt viele Themen wie Loyalität, Freundschaft, Vertrauen und Liebe, aber im Zentrum steht das Erwachsenwerden. Auf den ersten Blick ist die Erzählung eine herkömmliche Coming-of-Age-Geschichte. Ari, der Ich-Erzähler, beschreibt die Erlebnisse seiner beiden Sommer, als er fünfzehn und sechzehn Jahre alt ist. Es geht weniger um die Handlung an sich, als um die Wandlung der Figuren. Ari setzt sich gedanklich häufig intensiv mit sich und der Welt auseinander, dabei kommt er auch zu tiefen Erkenntnissen, jedoch kommt ihm das selbst nicht so vor, da sich für ihn mit jeder Erkenntnis viele neue Fragen auftun. Dem Leser kann diese Tiefe beim ersten Lesen ebenfalls verborgen bleiben, da die Reflektionen oft locker, im Plauderton geschrieben sind, sodass man versucht sein kann, diese zu überlesen. Die Leichtigkeit des Schreibens bildet eine spannungsvolle Diskrepanz zu der Schwere der Themen.
Die Geschichte wird rückblickend erzählt – gleichwohl ist keine Differenz zwischen erlebendem und erzählendem Ich zu erkennen. An keiner Stelle wird das Geschehen, wird die eigene Entwicklung vom Erzähler aus der zeitlichen Distanz heraus reflektiert, so dass man sich fragt, warum das Ganze nicht präsentisch erzählt wird. Störend ist dies jedoch nicht, da die Handlung trotzdem in sich völlig schlüssig ist. Der Roman wird dominiert von Figurenrede, entweder vom inneren Monolog Aris oder vom Dialog der Figuren untereinander. Sáenz versteht es wunderbar, sich in die Gefühlswelt seiner Protagonisten hineinzuversetzen, und so schildert er äußerst treffend die Desorientiertheit der beiden Jugendlichen, die zwischen ihrem alten kindlichen Ich und dem erwachsenen Ich festzustecken scheinen, und beschreibt, wie schmerzhaft dieser Prozess der Veränderung ist.
In Sáenz’ Roman geht es dem Ich-Erzähler darum, Antworten auf seine Fragen zu finden: Wer bin ich? Wer ist mein Vater? Wer ist mein Bruder? Wieso ist der im Gefängnis, und warum spricht niemand über ihn? Wieso bin ich so wie ich bin? Was ist ein Leben? Was ist Glück, und warum bin ich so unglücklich? Warum existieren Vögel, und warum weiß Dante auf solche Fragen Antworten und ich nicht? Die Suche nach Antworten wird in den inneren Monologen und Dialogen behutsam und leise, teilweise poetisch und teilweise fast philosophisch aufgegriffen und erörtert.
Auf den zweiten Blick entwickelt sich aber noch ein zweites zentrales Thema, und das ist die Homosexualität. Dante wird sich bald seiner selbst bewusst und merkt, dass er lieber Jungs küssen möchte als Mädchen. Als er für acht Monate mit seinen Eltern nach Chicago zieht, weil sein Vater an der dortigen Universität eine Gastdozentur bekleidet, schreibt er Ari Briefe, in denen er sich eindeutig dazu äußert. Ari will nichts davon wissen, er findet diese Offenheit unangemessen und blockt Dantes Fragen diesbezüglich ab. Als Dante zurückkommt, wird Aris und Dantes Freundschaft auf eine harte Probe gestellt, denn Dante liebt Ari, und das zeigt er auch. Ari fühlt sich überfordert und ängstlich, er weist Dante zurück. Der Leser ist sich bis zum Schluss nicht sicher, wie es in Ari wirklich aussieht, und dies liegt nicht zuletzt daran, dass Ari das selbst nicht weiß. Er merkt nur, wie auch schon zu Beginn des Buches, dass es ihm schlecht geht, dass er unglücklich und traurig ist.
Zu guter Letzt brechen Aris Eltern ihr Schweigen. Aris Vater erzählt ihm von seinem Bruder Bernardo und warum dieser im Gefängnis ist. Als Dante mutwillig zusammengeschlagen wird und Ari, vollkommen blind vor Wut und voller unkontrollierbarer Emotionen, Dante rächt, öffnet sich Aris Vater erneut und erzählt ihm vom lange verschwiegenen Krieg und motiviert Ari dadurch, nicht vor seinen Gefühlen davonzulaufen. So findet Ari den Mut, die Liebe zu Dante zuzulassen und sich zu ihr zu bekennen. Er merkt, dass sein Gefühl von Falschsein und sein ganzes Lebensleid seiner unterdrückten Liebe geschuldet waren. Endlich ist Ari frei. „Aristoteles Mendoza ein freier Mann“.