Browner, Jesse: Alles geschieht heute
Und manchmal kommt es doch ganz anders
von Philipp Wudtke (2015)
In seinem Roman „Alles geschieht heute“ erzählt Jesse Browner vom 17-jährigen Wes, der am Vorabend sein ‚erstes Mal’ mit einem Mädchen namens Lucy erlebt hat. Doch eigentlich, so glaubt er zumindest, liebt er ein anderes Mädchen, Delia. Im Laufe des Tages erinnert er sich an die Erlebnisse aus der Nacht und hinterfragt seine Vorstellungen vom Leben. Nebenbei muss er sich, wie jeden Tag, um den Haushalt, seine kranke Mutter und seine Schwester kümmern.
Wes lebt zusammen mit seiner 11-jährigen Schwester Nora und seiner Mutter in Greenwich Village in einem etwas heruntergekommenen Einfamilienhaus. Seine Mutter leidet seit Jahren unter Multipler Sklerose, wodurch sie zu einem eingeschränkten Leben gezwungen ist, gefangen in ihrem Bett in einem dunklen und nach Urin, Buttertoast und antiseptischen Mitteln riechenden Zimmer. Dort schaut sie sich täglich und immer wieder Folgen der Sendung „Freude am Malen“ mit Bob Ross an. Wes fühlt sich in der Pflicht, sich rund um die Uhr um Mutter und Schwester kümmern zu müssen. Sein Vater hat vor vielen Jahren einen Roman veröffentlicht, seitdem arbeitet er allerdings gezwungenermaßen nur noch als Dozent. Er wohnt im Gartenhäuschen des Hauses, in das er regelmäßig Studentinnen einlädt. Um seine Frau kümmert sich schon länger nicht mehr, sodass er auch am Familienleben nicht mehr häufig teilnimmt. Wes hat ein distanziertes Verhältnis zu ihm und hält ihn für einen Versager.
Ganz anders ist Wes‘ Beziehung zu seiner Schwester, die für ihn das „fröhlichste, lockerste, verlässlichste, freundlichste und intelligenteste Kind auf diesem Planeten“ ist. Der imaginäre „Mäusejunge“ namens Bobby, durch den Nora zuweilen spricht, sorgt bei schlechter Stimmung nicht nur für gute Laune, sondern ist auch Familientherapeut und Ratgebender. Für Nora ist Bobby eine Rolle, auf kindliche Weise für Unterhaltung zu sorgen, auf der anderen Seite auch ungefragt und deutlich ihre Meinung mitzuteilen. Wes empfindet eine große Liebe für seine Schwester und macht sich in väterlicher Manier Sorgen um ihren weiteren Lebensverlauf. Durch den Rückzug des Vaters muss sich Wes um mehr familiäre Angelegenheiten kümmern, als einem Siebzehnjährigen zuzumuten ist. Dadurch kommt es immer wieder zu Vorfällen, in denen er unfair seiner Schwester gegenüber ist oder sich ertappt, wie er sich ausmalt, welche Lasten von ihm fielen, wenn seine Mutter stürbe. Oftmals plagt ihn ein schlechtes Gewissen, doch ist es nachvollziehbar, dass ihm die Situation über den Kopf wächst, schließlich hat er in seinem Alter mit sich selbst genug zu kämpfen. Dass seine Wut auf seinen Vater dabei immer größer wird, scheint nur berechtigt.
Wes scheint ein intelligenter, wissbegieriger und belesener junger Mann zu sein. Die Schule unterfordert ihn, und die Facharbeit, die er neu schreiben soll, existiert, so glaubt er, eigentlich schon geschrieben in seinem Kopf, bevor er überhaupt den ersten Satz zu Papier bringt. Er will Schriftsteller werden und möchte es dabei deutlich besser machen als sein Vater. Wes glaubt für sein Alter sehr reif zu sein und zeigt dies immer wieder gerne durch zahlreiche Verweise auf große literarische Werke, aber auch aus der Bedienungsanleitung eines Maschinengewehrs versteht er noch, ästhetische Funken zu schlagen. Dies verdeutlicht einmal mehr, dass es Wes oftmals gar nicht um die Sache selbst geht, sondern er sich nur zu inszenieren versucht. Während des ganzen Romans beschleicht den Leser immer wieder das Gefühl, dass Wes sich ständig ‚verkleidet‘, um vorgeben zu können, dass er der ist, der er vermutlich gerne wäre: Er wäre gerne tiefsinniger als die anderen Jungs in seinem Alter, er wäre gerne in Delia, die intellektuelle Buddhistin verliebt, damit ein wenig Licht von ihr auf ihn abfalle, er wäre gerne ein hochbelesener junger Mann, dem es besser als seinem Vater gelingen möchte, zahlreiche Romane zu veröffentlichen – aber er scheint nicht herausfinden zu wollen, wer er wirklich ist. Er macht sich viele detaillierte Gedanken über das Leben und wägt alle Entscheidungen genauestens ab – bis auf dieses eine Mal, nach dem die Fassade zu bröckeln beginnt.
Die Geschichte setzt direkt an dem Morgen nach der Party ein, und der Leser erhält zunächst nur zögerlich Einblicke in die Geschehnisse der letzten Stunden, doch eines ist sofort gewiss: Wes ist total durcheinander. Zwischen Tränen und Zweifeln lässt er die letzten Stunden Revue passieren, muss sich dabei aber auch stetig mit gegenwärtigen Situationen auseinandersetzen. Nach dieser Nacht ist Wes sich sicher, dass er sein Leben für immer ruiniert hat. Fast ein ganzes Jahr hatte er sich für Delia aufgespart, für die er versucht, ein besserer Mensch zu werden. Und doch hat er mit Lucy geschlafen, einem Mädchen, das seinem Ruf nach schon mit vielen Jungen etwas gehabt haben soll. Wieso hat Wes sich zu diesem ‚Fehltritt‘ verleiten lassen, und was hat das für ihn und für seine Zukunft zu bedeuten? Hat er damit Delia hintergangen, in die er eigentlich verliebt zu sein meint? Was ist mit ihm und Lucy? Welche Auswirkungen hat die Nacht auf sein Verhältnis zu seiner Schwester? Und ist er seinem Vater nicht doch deutlich ähnlicher, als er es jemals sein wollte?
„Alles geschieht heute“ spielt sich an nur einem einzigen Tag ab, nämlich dem Tag nach der Nacht mit Lucy, die in Wes' Augen alles verändert hat. Die gesamte Geschichte ist ein zusammenhängender Text, der weder Kapitel noch klare Absätze enthält. Das unterstreicht einerseits eindrücklich Wes‘ Ruhelosigkeit, macht es anderseits aber auch schwer, Möglichkeiten zu finden, das Lesen zu pausieren. Auch der Wiedereinstieg gelingt aufgrund dieses Fließtextes nicht immer. Die zeitlichen Sprünge zwischen der vergangenen Nacht und der Gegenwart finden unmittelbar statt und werden zum Teil nur durch einen Punkt am Satzende voneinander getrennt. Die Sätze sind oft verschachtelt und ziehen sich nicht selten über fünf, sechs oder noch mehr Zeilen. Dabei setzt der Autor trotz der zahlreichen inneren Monologe nicht auf einen Erzähler aus der Ich-Perspektive, sondern wählt einen außerhalb der Geschichte stehenden Erzähler, der sein Erzählen aber auf Wes, dessen Gefühle und Gedanken fokussiert. Dies gelingt deshalb so besonders gut, weil Wes‘ vermeintliche Tiefsinnigkeit, sein Hang zum Philosophischen und seine Schwermütigkeit dadurch besser in Szene gesetzt werden können. Nichtsdestotrotz gelingt es Browner, dem Leser einen Einblick in die Welt eines Siebzehnjährigen zu geben, der in eine für ihn zutiefst erschütternde Krise hineingeworfen wird, dem die Gedanken kreisen und der hofft, seine komplizierte Situation irgendwie lösen zu können.
So sucht Wes nach Antworten auf die zahlreiche Fragen in seinem Kopf, die ihm aber niemand beantworten kann. Durch die Krankheit seiner Mutter und die Unfähigkeit seines Vaters ist Wes gezwungen, schnell erwachsen zu werden. Im Laufe des Tages passiert so einiges, was ihm eine neue Orientierung gibt. Er stellt manches infrage, was bisher sein Leben ausgemacht hat. Es kommt zu einem Streitgespräch mit seinem Vater, bei dem er erkennt, dass sein Vater, den er früher abgöttisch verehrt hat und den er heute zutiefst verachtet, sich gar nicht verändert hat, sondern dass er selbst es ist, der sich verändert hat. Wes muss schmerzlich feststellen, dass es an ihm liegt, dass er seinen Vater heute so geringschätzt. Aber durch diese Erkenntnis kann er beginnen, zu sich selbst zu finden, sich selbst zu erkennen. Und auch wenn es zunächst wehtut, kann er dadurch einen wichtigen Schritt gehen: Er lädt Lucy zum Abendessen ein. Er erkennt, dass Delia bis zu der Party ihrerseits kein über eine Freundschaft hinausgehendes Interesse an ihm gehabt zu haben scheint und dass sein Verhalten ihr gegenüber von bloßem Wunschdenken geprägt gewesen ist. Es ist Lucy, die offenbar doch mehr als nur ein Mädchen für eine Nacht ist und ihm den Weg zeigen kann, der ihn zu sich selbst führt, der ihn glücklich werden lässt. „Und was ihm gerade geschehen war, war, dass er Lucy auf exakt die Weise in die Augen gesehen hatte, wie er es sich immer gewünscht hatte, dass Delia es mit ihm täte, und in diesen Augen tatsächlich eine Botschaft gefunden hatte.“
Browners Roman ist nicht für alle jugendlichen Leser geeignet, da der ausgiebige und sehr philosophische Erzählstil nicht unbedingt den Geschmack eines jeden Lesers trifft. Durch die zahlreichen Verweise und umfangreichen inneren Monologe gehört der Roman sicherlich zu den Büchern, bei denen es sich lohnt, sie mehrmals zu lesen. Man erlebt eine gefühlvolle Geschichte über einen Jungen, der wichtige Entscheidungen für sich selbst treffen muss, der dabei mit zahlreichen Herausforderungen im Alltag konfrontiert wird und am Ende den für ihn richtigen Weg einzuschlagen weiß.