Greder, Armin: Die Insel. Eine tägliche Geschichte
Die Zeitlosigkeit von Angst
von Nadine Bieker (2015)
Wir schlagen das Buch auf und sehen eine fast weiße Doppelseite: links oben ein kleines Floß, darunter ein kurzer Text, rechts unten ein nackter Mann. Doch die Nacktheit irritiert nicht, vielmehr lässt sie den Mann ‚human‘ wirken, ganz natürlich, ein wenig zaghaft, friedlich. „Am Morgen fanden die Inselbewohner einen Mann am Strand […]. Er stand auf, als er sie kommen sah. Er war nicht wie sie.“
Wie „sie“ wohl sein mögen, wo der Mann doch so ‚gewöhnlich‘, eher vertraut erscheint?
Wir blättern um; man erschrickt beinahe: Wir sehen neun riesige, kräftige, die ganze Doppelseite einnehmende, skeptisch und unfreundlich dreinblickende Menschen. Einige scheinen zu tuscheln, doch alle starren uns (oder den Mann) an oder schielen wenigstens über die Schulter – Greder macht sich die Assoziation von Machtverhältnissen zunutze, die sich durch die Gegenüberstellung von unterschiedlich groß gezeichneten Menschen einstellt. Die Insulaner sind ausgestattet mit Mistgabeln und anderen Gerätschaften, mit denen man sowohl arbeiten, aber auch aufspießen, verletzen kann: „Sie fragten sich, warum er hierhergekommen sei. Was er hier wolle. Was nun zu tun wäre. Einer sagte, es sei wohl am besten, wenn der Mann gleich wieder weggeschickt würde – da, wo er hingehöre. […] Aber der Fischer wusste, wie es draußen auf dem Meer war. ‚Es wäre sein Tod, und den möchte ich nicht auf dem Gewissen haben‘, sagte er. ‚Wir müssen ihn aufnehmen.‘“
Vielleicht kommt Ihnen all das bekannt vor: Dies ist der Beginn von „Die Insel“, Armin Greders vielbesprochenem Werk, das in diesem Herbst neu aufgelegt und mit einem Nachwort von Heribert Prantl versehen worden ist.
Es entspricht nicht dem Konzept der Les(e)bar, neu aufgelegte oder wiederentdeckte Werke zu besprechen, gerade nicht solche, deren Qualität schon hochgepriesen worden ist. Als ich das Buch vor kurzem erhalten und kennengelernt habe, bin ich fasziniert und schockiert zugleich gewesen: Fasziniert, wie Greder es schafft, mit wenig Text und Bildern, die erst einmal nicht zur Identifikation einladen, zum Nachdenken anzuregen, sich die Frage zu stellen, wer sich eigentlich ‚richtig‘ und wer sich ‚falsch‘ verhält. Schockiert darüber, dass ein dreizehn Jahre altes Buch auf den Punkt bringt, was derzeit hochaktuell ist, und dass die dargestellte Grausamkeit zeitlos zu sein scheint. Und deshalb sollte das Bilderbuch trotz seines Alters (noch einmal) besprochen werden.
„Also nahmen sie den Mann auf“. Ihr Aufnehmen ist das Separieren des Mannes von der Gruppe, das Scheuchen mit Gerätschaften, sein Wegsperren in einen leerstehenden Ziegenstall, fernab von ihnen. Sie „fuhren so fort, wie sie es gewohnt waren.“ Der Alltag der Insulaner wird dargestellt durch Bilder voller Stereotype: Drei Kinder scheuchen ein kleineres, bloßfüßiges Kind vor sich her, schikanieren es mit Stöcken, bringen es zum Weinen. Es ist von klein auf ihr Alltag, schwächere, von einer vermeintlichen Norm Abweichende zu schikanieren.
„Eines Tages erschien der Mann in der Ortschaft“: Wir sehen ihn nicht kommen, was wir aber sehen, ist eine Insulanerin, die Angst ausstrahlen soll, dabei an Munchs „Der Schrei“ erinnert. Doch wer hat Angst? Wer löst Angst aus?
Wir mögen uns fragen, warum der Mann seinen Stall verlassen hat, doch bei den Insulanern bricht ein „Aufruhr“ aus. Er hat Hunger, fragt nach Nahrung, er habe seit Tagen nichts gegessen. Der Fischer pflichtet ihm bei: „‚[M]an kann ihn nicht einfach seinem Schicksal überlassen, jetzt, da er hier bei uns ist. Wir müssen ihm helfen.‘ Das erschreckte die Bewohner.“ Man könne doch nicht jeden durchfüttern, der zu ihnen komme. Der Fischer schlägt vor, ihn anzustellen, man könne ihm doch auch weniger zahlen. Niemand kann sich jedoch vorstellen, dass der Mann für irgendeine Arbeit geeignet sein könnte. Der Mann wird für die Inselbewohner zum Inbild des Schreckens, der Gefahr, der Bedrohung. Doch sie finden eine Lösung: Sie „brachten ihn zu seinem Floß und schoben ihn hinaus in die Wellen. Dann legten sie Feuer an das Boot des Fischers, denn er war es gewesen, der sie zur Aufnahme des Mannes bewogen hatte.“ Zuletzt bauen sie eine Mauer um ihre Insel, um sich vor neuen Eindringlingen zu schützen und damit sie niemand entdecken kann.
Was hat der Mann getan, dass die Inselbewohner derart harsch reagieren? Nichts. Und dennoch halten die Inselbewohner seine Anwesenheit nicht aus. Sie haben Angst, Angst davor, die Bequemlichkeit, die ihre Vorurteile und Stereotype mit sich bringen, aufgeben zu müssen. Können wir uns wirklich bedroht fühlen durch einen Menschen, nur weil er nicht unter ‚uns‘ aufgewachsen ist, wir ihn noch nicht kennen, und er auf den ersten Blick ‚anders‘ erscheint?
Allein der Fischer wird durch seine Bezeichnung von den anderen Insulanern unterschieden: Er hat eine eigene Meinung, die zwar manch andere teilen, doch er ist der einzige, der sich wagt, diese zu artikulieren. Greders Bilder wirken durch die Darstellung der Menschen: Der Friedlichkeit, Humanität, die der Mann ausstrahlt, wird die Brutalität der Inselbewohner gegenübergestellt. Durch deren schon fast groteske Darstellung wird die Rezeption in die gewünschte Richtung gelenkt: Sie sind es, die sich falsch verhalten, die böse sind, die voller Vorurteile sind, vermeintliche Andersartigkeit weder akzeptieren noch tolerieren und damit Leben zerstören. Und all das sind Grundprinzipien ihrer Lebensweise, die mit dem Mann an sich gar nichts zu tun haben. Der nackte Mann als 'reines' Wesen, ohne Kleidung, ohne besondere Merkmale oder auffällige Verhaltensweisen wird als Bedrohung dargestellt, und die sich bedroht Fühlenden wirken doch durch ihre 'Hässlichkeit'.
Greder gelingt die Rezeptionslenkung vor allem durch seine teilweise konträre Bild-Text-Komposition, aber auch durch die beinahe zu aggressive Darstellung der Insulaner. Läse man allein den Text, assoziierte man doch ein anderes Setting. Zwar erzählt der Text auch keine Geschichte voller Nächstenliebe, im Gegenteil, aber betrachtet man beispielsweise die Reihe der Abbildungen, die in Panels aufzeigen, zu welchen Aufgaben der Gestrandete laut den Insulanern nicht befähigt sei, erkennt man, dass sie um keine Ausrede verlegen sind, warum sie ihn nicht beschäftigen können. Auf diese Reihe folgt eine Sequenz, deren Bilder zeigen, wie die Inselbewohner aus dem Mann eine Figur des Schreckens und der Bedrohung machen, ohne dass er selbst auch nur den geringsten Anlass dazu gibt. Die Illustrationen sind allesamt in dunklen Farben gehalten, die das Geschilderte einmal mehr kühl und drastisch wirken lassen. Die permanente Intermedialität zu Munchs „Der Schrei“ lässt den Rezipienten erkennen, dass die Insulaner wahrhaftige Existenzangst haben, doch mit jedem weiteren Vorurteil möchte man diese selbst anschreien, so wie man meint, Munchs Gemälde schreien zu hören – die Insulaner meinen nur, sie wären diejenigen, die Grund zum Schreien hätten.
Sechzig Millionen Flüchtlinge gibt es laut Prantl derzeit auf der Welt, aber „[n]ur die allerwenigstens schaffen es dorthin, wo der Reichtum so groß ist wie die Klage über die Flüchtlinge.“ Prantl hat sein Nachwort vermutlich verfasst, bevor der akute Flüchtlingsstrom Europa erreicht hat – es dürften mittlerweile noch einmal mehr sein. Man kann nicht leugnen, dass es nicht einfacher wird, je mehr Flüchtlinge Schutz suchen. Vor allem wird es aber nicht leichter, wenn wir uns gegen sie stellen, wenn weiterhin von ‚wir‘ und ‚den Anderen‘ gesprochen wird. Wir alle müssen ein ‚uns‘ schaffen, um realistische Möglichkeiten zu schaffen, vor allem aber, um die Menschlichkeit nicht zu vergessen.
„Das Bilderbuch von Armin Greder ist eine Warnung und Abschreckung – es ist eine Mahnung: mit Flüchtlingen, die Schutz suchen und Hilfe brauchen, müssen wir anders umgehen. Sie sind Menschen, die Angst haben, Menschen wie wir.“ (Prantl)