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Titelbild
María Julia Díaz Garrido und David Daniel Álvarez Hernández (Ill.):
Als die Vögel vergaßen, Vögel zu sein
Aus dem Spanischen von Lydia Thiessen
Zürich: aracari 2015
14 ungez. Bll.
€ 14,90
Bilderbuch ab 7 Jahren

Díaz Garrido, María Julia und David Daniel Álvarez Hernández (Illustration): Als die Vögel vergaßen, Vögel zu sein

Dickbäuchige Vögel mit Regenschirmen

von Dennis Görke (2015)

Am Anfang lebten die Vögel auf Bäumen. Doch nachdem sie dort wild gehaust hatten, schwebte ihnen Größeres vor. Das Fliegen hatten sie längst verlernt, stattdessen waren ihnen Arme und Beine gewachsen. In ihrer zivilisatorischen Empfindsamkeit legten sie sich Regenschirme zu, da ihre Federn zu durchnässen drohten. Weil sie ohnehin zu schwer für die Äste geworden waren, stiegen sie herab, in ihren viel zu engen Hochwasserhosen und den Schuhen, die auch nicht mehr so recht passten. Sie „stellten sich ein anderes Leben vor“.

María Julia Díaz Garridos und David Daniel Álvarez Hernández’ Bilderbuch „Als die Vögel vergaßen, Vögel zu sein“ ist eine Parabel, die auf die menschliche Gesellschaft und ihren Prozess der Zivilisation gedeutet werden kann. Auf zwölf Doppelseiten wird die Gesellschaftsgeschichte der dickbauchigen, flugunfähigen Vögel in einer phantastischen Vogelwelt dargestellt. Dabei erzählen die Bilder aber keine fortlaufende Geschichte. Vielmehr werden Bild für Bild ‚Errungenschaften’ und Eigenschaften der Vogelgesellschaft angedeutet, die diese auszeichnen und die sich der Leser erschließen kann. Jedes Bild zeigt einen oder mehrere andere Vögel, wodurch die Vögel insgesamt anonym bleiben und das Allgemeingültige der Parabel betont wird. Ein wiederkehrendes bildliches Element zieht sich fast leitmotivisch durch das Werk: ein Regenschirm. Erst lehnt er unscheinbar an einem Baum, hängt dann an einem Kleiderständer, später ist ein langschnabliger Vogel im Begriff, ihn zu öffnen, und im vorletzten Bild, einer postapokalyptisch anmutenden Darstellung, werden Regenschirme angesichts eines Unwetters, das tote Bäume wie Strohhalme umknickt, zum Sinnbild von Nutzlosigkeit.

Das Zusammenspiel von Bild und Text ist raffiniert gemacht. Der Text nimmt nicht viel Raum auf den großformatigen Bild-Doppelseiten ein. Die Schriftgröße und die kurzen Sätze wirken auffallend klein im Vergleich zum Bildlichen. Doch hat die Textebene eine große Bedeutung: Der außenstehende und von der Vogelgesellschaft unabhängige Erzähler bewertet das Geschehen rückblickend und wirkt dabei teils sehr negativ kommentierend. Einige Bilder werden erst durch die sprachliche Ebene in einen kritischen Kontext eingebettet. Hierbei ist aber auch das Leseverständnis des Betrachters von Bedeutung. Der kindliche Leser versteht den Satz „Doch schon sehr bald fingen sie an, zu weit zu gehen“ vermutlich eher wörtlich, während ältere Leser zwischen den Zeilen lesen. Die Illustrationen wirken durch den Schwarz-Weiß-Kontrast und die feine Zeichentechnik. Hernández arbeitete dabei ausschließlich mit Bleistift, was eine vielfältig abgestufte Grautönung hervorbringt, wodurch eine plastische und düstere, zugleich wunderschöne und bedrückende Stimmung erzeugt wird. Mal scheinen die Bilder durch einen weißen Hintergrund flach, nur ein gezeichneter Vogel wirkt dann wie ins Leere montiert. Dann wiederum erlangen sie durch Wolken oder zerstörte Bäume eine großartige Bildtiefe. Die Vögel, die fortlaufend im Plural bezeichnet werden, erscheinen stets als statisch. Die gezeichneten Schnäbel zeigen eine missmutige Mimik, als hätten die Vögel nichts, worüber sie sich freuen könnten.

Ein schlafender Wellensittich, der in einem prunkvollen Käfig sitzt, dominiert den Vordergrund einer Doppelseite, während andere „Nester“ im Hintergrund, nur silhouettenhaft gezeichnet, dem Bild Tiefe verleihen. Bild und Text stehen sich in dieser Szene in kontrapunktischer Spannung gegenüber – die „schönsten Nester“ sind nämlich Käfige, und Käfige haben die Eigenschaft, dass man darin eingesperrt ist, auch wenn sie noch so schön aussehen.

Die Vogelgesellschaft hat nicht zuletzt mit der Last ihrer Population zu kämpfen („sie wurden immer mehr “). – In einem Luftballon sitzen Vögel verschiedener Arten dicht aneinandergedrängt. Ein großer Rabe räumt sich mehr Platz ein und stützt sich auf einem kleineren jüngeren Vogel ab, der seine Last kaum tragen kann. Dies könnte als Anspielung auf die steigende Rentenlast für die Jüngeren verstanden werden, die durch die Überalterung einer Gesellschaft entstehen kann.

Während sich der Lebensstil der Vögel immer mehr verfeinert – im Bild verdeutlicht durch die zunehmende Eleganz der Kleidung –, fehlt es der Gesellschaft an der Ausbildung grundlegender zivilisatorischer Standards: „Aber den Umgang, das Verhalten und das Verständnis untereinander kontrollierten sie nicht.“ Zwei Vögel liegen tot am Boden neben ihren Musketen. Ihre beiden Uniformen sind gleich geschnitten, aber im Ton invertiert. Die Vogelköpfe scheinen dagegen nahezu gleich zu sein; es könnte sich um Brüder handeln.

Die erwähnte postapokalyptische Szene auf der vorletzten Doppelseite deutet darauf hin, dass es mit dieser Gesellschaft kein gutes Ende nehmen wird. Doch birgt der Schluss des Buches noch einen Hoffnungsschimmer für die Vogelgesellschaft, denn das letzte Doppelbild zeigt ein kleines Vogelmädchen, das das Fliegen lernen will. Es hängt an einen Ast gebunden, dessen Zweige wieder Blätter zu tragen beginnen, und schwingt sich zum Vogelvater. Die Vogelmutter sitzt auf dem Ast und beobachtet das Geschehen mit einem Lächeln.

Die Altersempfehlung „ab 7 Jahren“ bezieht sich vermutlich auf die Rezeption des Bilderbuchs in Anwesenheit eines Erwachsenen, denn es wird sehr viel ‚Stoff zum Nachdenken’ geboten. Dieses Buch setzt ohne Frage ein gewisses Weltwissen über Gesellschaft voraus, wenn über die einfache Bild- und Textbetrachtung hinausgedacht werden soll. Die wenig narrative Machart und die Veröffentlichung in der Reihe „Kleine philosophische Bibliothek“ verdeutlichen, dass es sich bei diesem Werk nicht um Unterhaltungslektüre handelt, sondern um ‚Nachdenk-Lektüre’.

„Als die Vögel vergaßen, Vögel zu sein“ heißt im Original „Bandada“, was ins Deutsche übersetzt „Schar“ oder „Schwarm“ bedeutet. Der vom Verlag gewählte, stark ausdeutende deutsche Titel erscheint jedoch bedeutungsschwer und drängt darauf, mit interpretiert zu werden; er lenkt die Leseart gar in eine – vom eigentlichen Text überhaupt nicht vorgegebene – Richtung, die das Vergessen des Selbstseins in den Vordergrund stellt. Denn ein Vogel, der vergisst, ein Vogel zu sein, ist nicht er selbst.

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