Lacombe, Benjamin und Paul Echegoyen: Leonardo & Salaï. 1. Teil: Il Salaïno
„Der Maler muss etwas Universelles schaffen wollen“
von Nina Heindl (2015)
Eine androgyne Figur mit großen Augen, laszivem Blick und keck den Mund umspielendem Lächeln, mit weit geöffnetem Hemd, das die linke Brust entblößt, und elegant übereinandergelegten Händen – so wird einer der beiden Protagonisten der Graphic Novel „Leonardo & Salaï“ bereits auf dem Cover eingeführt. Es handelt sich um eine Darstellung Gian Giacomo Caprottis, des jungen Schülers des weltbekannten Renaissancekünstlers Leonardo da Vinci; unter dem Namen „Salaï“ sollte er später einmal selbst ein berühmter Künstler werden.
Die beiden französischen Illustratoren Benjamin Lacombe (Szenario, Storyboard, Malerei, Zeichnung, Farben) und Paul Echegoyen (Mitwirkung am Storyboard, Zeichnung der Hintergründe) haben es sich mit diesem Band und einem zweiten Teil, der noch folgen soll, zur Aufgabe gemacht, Leonardo da Vincis Leben und Wirken, seine großen Gemälde und technischen Ideen in Form einer Graphic Novel zu verewigen, und sie legen den Fokus dabei auf Aspekte, die bisher seltener beleuchtet worden sind. Der erste Teil beschäftigt sich mit Leonardos Leben ab 1490. Der Künstler ist zu diesem Zeitpunkt bereits 38 Jahre alt, und Salaï – so die Darstellung – wird von ihm gezwungen, als Lehrling in seine Dienste zu treten, da der Junge aus Leonardos Atelier Essen habe stehlen wollen. Gemeinsam arbeiten Meister und Schüler mit weiteren Werkstattangehörigen an dem berühmten Fresko „Das letzte Abendmahl“ im Dominikanerkloster Santa Maria delle Grazie in Mailand, testen Leonardos Idee einer Flugmaschine aus, reisen nach Mantua, Venedig und dann wieder nach Florenz. Außerdem stellen sie sich, um Aufträge einzuwerben, den Herausforderungen sozialer Verpflichtungen und kommen sich dabei schnell näher. Der Band endet etwa 1506 mit einem Ausblick auf den zweiten Teil: Francesco Melzi, ein junger Knabe, stellt sich in Leonardos Werkstatt vor und möchte bei ihm in die Lehre gehen. Die Verkomplizierung der Beziehung von Leonardo zu Salaï durch einen weiteren hübschen Jüngling verspricht einen Spannungsbogen für die Fortsetzung. Welche Rolle der junge Melzi in Leonardos Leben einnehmen wird, lässt sich durch die präsenten Parallelen der Anfangs- und der Schlussszene erahnen: Nach einer Darstellung der Stadt Florenz aus der Vogelperspektive – es handelt sich um eine äußerst detaillierte und atemberaubende Ansicht zu Eingang des Werks – begleitet auch in der Schlusssequenz ein Vogel den Jungen Melzi zu Leonardos Atelier. Mit ähnlich großen Augen wie Salaï steht auch Melzi dem etwas arrogant wirkenden Meister gegenüber und betritt darauf Leonardos heilige Räume. Somit wird über die erzählerische sowie gestalterische Engführung der beiden Szenen das Konfliktpotential deutlich, das im zweiten Band verhandelt werden muss: Macht der kleine Melzi mit den großen Augen Salaïs Stellung als Leonardos Muse streitig? Welche Rolle wird der Junge im Beziehungsgeflecht zwischen Meister und Schülern spielen?
Die gestalterische Umsetzung des Bandes überzeugt vor allem im Detail: Neben Doppelseiten, in denen die Leserichtung der Panelarrangements ganz konventionell befolgt wird (auf jeder Einzelseite von links oben nach rechts unten), sind mehrere Seitengestaltungen zu finden, die diese Leserichtung aufbrechen – die Panelreihen werden immer wieder über die ganze Breite der Doppelseite geführt, was im ersten Moment irritierend wirkt, dann aber den Lesefluss zu rhythmisieren vermag und Abwechslung bietet. Die Handlung wird zwischendurch immer wieder von Doppelseiten unterbrochen, die eine der Erzählung entrückte Darstellung beinhalten. Es handelt sich dabei um farbenprächtige Traum- bzw. Imaginationsbilder, wie sie typisch für Lacombes überbordende, teils surrealistisch anmutende Gestaltungsweise und bisherige Produktionen sind. In „Leonardo & Salaï“ laden diese Bilder zum Verweilen ein und stehen mal in loser, mal in engerer Verbindung mit der Erzählung. Eine dieser Darstellungen zeigt in besonderer Weise, welche gestalterischen Möglichkeiten Künstlerbiographien in Form von Graphic Novels bieten: Auf eine die ganze Doppelseite einnehmende Darstellung, in der Leonardos Erfolg in Florenz und die zeitweilige räumliche Trennung des Künstlers von Salaï thematisiert werden, folgt die freie Wiedergabe eines Gemäldes Leonardo da Vincis. Es handelt sich um das Werk „Anna selbdritt“, das im Zeitraum zwischen 1502 und 1513 entstanden sein soll und sich heute im Pariser Louvre befindet. Lacombe spiegelt in der Adaption des Werks die Züge seiner Figuren Leonardo und Salaï in die der eigentlich dargestellten Heiligen Anna und Maria. Das Gemälde Leonardos wird in diesem Kontext als Imagination einer engen Zusammengehörigkeit der beiden Protagonisten verwendet und spiegelt gleichzeitig das Schaffen des im Fokus stehenden Künstlers wider. Zudem haben Lacombe und Echegoyen mitunter Verweise auf spätere Kunstwerke eingebaut, etwa wenn es sich Leonardo, Salaï und weitere Werkstattangehörige in einem Panel auf Seite 43 in einem Wald auf dieselbe Weise gemütlich machen, wie auch die Figuren in Edouard Manets „Le Déjeuner sur l’herbe“ („Das Frühstück im Grünen“) von 1863 angeordnet sind. Dadurch werden – mit einem Augenzwinkern – kunsthistorische Verweise gezogen und die Kunstgeschichte wird in größerem Zusammenhang rezipiert.
Wie bereits das Cover ist auch die Geschichte im Inneren vor allem in Sepiatönen gehalten. Nur Leonardos Werke, die durch Lacombes Hand in verschiedenen Graden Veränderung und damit auch Neudeutung erfahren, sind durchgängig farbig gefasst – eine bedachte Entscheidung, die die Diskrepanz zwischen dem, was uns heute aus Künstlerhand noch überliefert ist (die Werke selbst), und dem, was wir durch historische Dokumente zu rekonstruieren versuchen (das Leben des Künstlers), herauszustellen vermag. Ebenfalls auf dem Cover der Graphic Novel ist kenntlich gemacht, dass der Band der erste Teil einer Serie ist und den Titel „Il Salaïno“ („Das Teufelchen“) trägt, womit bereits deutlich wird, welche Persönlichkeitsmerkmale Salaïs hier in den Vordergrund gerückt werden. Damit zeigt sich eine weitere Besonderheit des Werkes: Salaï wird weniger als Künstler, sondern mehr als Muse dargestellt – eine Seite, die Laien wohl weniger bekannt sein wird. Allerdings muss diesbezüglich die Qualität der Paratexte bemängelt werden: Die dem Werk beigegebene Zeitleiste, die persönliche und politische Daten vermischt und nur den Zeitraum von Leonardos Geburt bis zum Zeitpunkt des Bandendes umfasst, überzeugt nicht gänzlich. Auch die auf dem Deckel der Graphic Novel zu findende Aussage („Benjamin Lacombe zeigt uns einen Leonardo ganz aus Fleisch und Blut“) kann so nicht eingelöst werden – zu viele Aspekte des Lebens und Wirkens des Künstlers bleiben in Lacombes Leonardo-Biographie nur angedeutet. Für vermeintliche Authentizität sorgt Lacombes Wiedergabe von Leonardos Aphorismen, die teils Wortspiele, teils Lebensweisheiten beinhalten und die der Künstler auf Skizzenblätter oder andere Schriftstücke gesetzt hat – ein Beispiel ist in der Überschrift dieser Besprechung zitiert. Allerdings lässt die Einbettung der Aphorismen in die Dialoge diese oftmals hölzern wirken, nimmt dem Wortaustausch jegliche Dynamik und kann die Nerven der Leserinnen und Leser doch mit der Zeit strapazieren.
Die durch das Rahmenwerk suggerierte Authentizität und Eindeutigkeit der Darstellung des Künstlers im Privaten, insbesondere was seine vorgebliche Homosexualität anlangt, aber auch der Festschreibung in der Zeitleiste, wann Leonardo an welchen Werken gearbeitet hat, ist allerdings kaum haltbar, da Leonardos Leben noch bis heute tatsächlich nur in groben Zügen bekannt ist: Viele Werke Leonardo da Vincis befinden sich in einem ständigen Prozess der Neudatierung und Neuzuschreibung, sodass wir nur wenig Gesichertes über das Leben des Künstlers wissen. Auch seine sexuelle Orientierung ist bei weitem nicht so eindeutig geklärt, wie es die monogame Beziehung zum Jüngling Salaï bei Lacombe und Echegoyen vielleicht vermuten lässt. Ein offener Umgang mit biographischen Ungewissheiten sowie ein stärkeres Herausstellen des fiktiven Charakters der Geschichte wären daher wünschenswert gewesen. In den Traumsequenzen kommt dieser Aspekt der Fiktionalität, der wegen der oben aufgeführten Gründe unweigerlicher Bestandteil der Geschichte sein muss, dann aber doch voll zur Geltung – eine besondere Stärke des Buches.
Zusammenfassend handelt es sich bei diesem Band um einer empfehlenswerte Graphic Novel, die zwar aufgrund der episodischen Erzählweise und der mangelnden Einbettung in historische Hintergründe nur für geschichtlich vorgebildete Leserinnen und Leser leicht zu rezipieren ist, doch auf gestalterischer Ebene reizvolle Umsetzungen verspricht.