Große Literatur für 'kleine Leute'
Dass es überhaupt zu einer deutschsprachigen Ausgabe von Schwester kam, haben wir Thomas Minssen zu verdanken, dem Programmverantwortlichen beim Züricher BajazzoVerlag : Minssen, seit Jahren ein großer Bewunderer von Jon Fosse, forschte bei dessen norwegischem Verlag Samlaget nach, ob es vielleicht auch ein Kinderbuch des Autors gäbe – und stieß auf Søster . Da bei Bajazzo niemand norwegisch spricht, wurde kurzerhand Hinrich Schmidt-Henkel gebeten, das im Jahr 2001 vom Norwegischen Kultusministerium als Kinderbuch des Jahres ausgezeichnete Buch zunächst probehalber zu übersetzen. Die Begeisterung über diese 'Probeübersetzung' war bei Minssen und seiner Kollegin Ingrid Rösli so groß, dass dann alles ganz schnell ging und kurze Zeit später ein druckreifer Text vorlag.
Mit diesem Deutschen Jugendliteraturpreis hat aber niemand gerechnet. Schon gar nicht Jon Fosse, der mit seiner Familie in Bergen lebt. Nach dem abendlichen Anruf von Ingrid Rösli hat er sich erstmal ein Bier aufgemacht – und zwar „ein großes.“ Schon die Nominierung war für ihn überraschend gewesen – „umso glücklicher“ war er dann nach Röslis Anruf. Fosse gehört der jungen Garde skandinavischer Schriftsteller an, die sich bewusst von der sozialkritischen Strömung der 1970er Jahre absetzten und mit denen die Postmoderne auch in der Literatur Einzug hielt. Fosse ist aber nicht nur ein begnadeter Essayist, Lyriker und Romancier, er ist auch einer der kraftvollsten Dramatiker der Gegenwart. Liebe und Einsamkeit, Leben und Tod sind die beherrschenden Themen in seinen Werken. Die Desillusioniertheit seiner Figuren spiegelt sich in einer kargen, oft bedrückend reduzierten Sprache. Seinen Texten wohnt eine große Traurigkeit inne, die aber immer wieder von unerwarteter Wärme durchbrochen wird. Verlässlich scheint in Fosses Romanen einzig die Natur. Hier finden die Protagonisten die Sicherheit, nach der sie suchen. Auch Jon Fosse selbst findet in der Abgeschiedenheit der Norwegischen Fjorde die Ruhe, die er zum Schreiben braucht. Dass er sein Boot „Edda“ taufte, verwundert da kaum. Der heute 48-jährige Fosse studierte Philosophie und Vergleichende Literaturwissenschaft und arbeitet seitdem – „ausgenommen von ein paar Gelegenheitsanstellungen“ – als freier Schriftsteller.
Er empfand es als „große Herausforderung“ als Guri Vasaas, die Lektorin seines Verlags Samlaget, mit der Bitte auf ihn zukam, ein Kinderbuch zu schreiben – folgte dieser Bitte aber nur allzu gerne. Fosse wollte ein Buch über die wenigen magischen Jahre der Kindheit schreiben. Und er schrieb so, wie er es immer tut, „in der bestmöglichen Art, nur mit einem Kind als Protagonisten“. Heraus kam ein Buch, über das nach der Preisverleihung kontrovers diskutiert wurde. Zu Recht, denn es ist kein 'leichtes' Buch. Es fordert den Vermittler geradezu heraus: Laut vorgelesen entfaltet der Text seine ganze sprachliche Kraft, und man kann erahnen, dass der Dramatiker Jon Fosse auf das gesprochene Wort setzte und die Vorlesesituation vor Augen hatte, als er den Text schrieb.
Auch für Hinrich Schmidt-Henkel ist Schwester ein ganz typischer Fosse: „Sein Stil ist unverwechselbar, und er bleibt ihm überall treu, egal in welchem Genre.“ Fosse psychologisiere in seinen Texten nie, biete aber immer einen tiefen Einblick in die Welt der Figur. „Das ist eine Kunst, die ihm so schnell keiner nachmacht,“ so Schmidt-Henkel. Jon Fosse ist „ die Konstante“ in Schmidt-Henkels Übersetzerleben: Er hat sämtliche Theaterstücke und Romane des Norwegers übersetzt. Dass es sich diesmal um ein Kinderbuch handelte, machte für ihn „keinen großen Unterschied“.
Es ist nicht das erste Kinderbuch, das Hinrich Schmidt-Henkel übersetzt hat. Nach einem kurzen Blick in seine Bibliographie kommt er auf immerhin 21 von ihm übersetzte Werke für junge Leser. Mit Schwester schließt sich nun vorerst der Kreis: Nach seinem Germanistikstudium hatte er „vor genau zwanzig Jahren“ in eben diesem Genre begonnen, Bücher zu übersetzen. In den folgenden Jahren machte er dann aber bis weit über den Tellerrand der Kinder- und Jugendliteratur hinaus von sich reden – er übertrug u.a. Werke von Michel Houellebecq, Erik Fosnes Hansen und Henrik Ibsen ins Deutsche. Für seine Neuübersetzung von Louis Ferdinand Célines Zeitroman Voyage au bout de la nuit wurde er 2004 mit dem Paul-Celan-Preis ausgezeichnet.
Neben seiner Übersetzertätigkeit arbeitet Schmidt-Henkel als Redakteur und Moderator (für das arte-Kulturmagazin Karambolage ), hält Lesungen und dolmetscht auf Kulturveranstaltungen. Zeit für ein Privatleben? Aber ja doch: Schmidt-Henkel lebt mit seinem Lebensgefährten („und Kollegen“), dem nicht minder erfolgreichen Übersetzer, Autor und Musiker Frank Heibert, „umgeben von Freunden mit Kindern im lesefähigen und -hungrigen Alter“ in Berlin. Hobbys gibt es nebenbei auch noch: einen Garten in Brandenburg und das Singen in einem Konzert- und Kammerchor.
Noch Fragen? Nun ja, wie er denn von der Auszeichnung erfahren habe? Er sei in Japan gewesen, auf einer Konzertreise, und habe ahnungslos und ohne an die Preisverleihung zu denken seine E-Mails abgerufen. Gefreut habe er sich dann „wahn-sin-nig.“ Und mit ihm das japanische Publikum – die Johannespassion hat er am Abend nämlich so inbrünstig intoniert wie selten zuvor.
Nach der Preisverleihung kam ich mit Aljoscha Blau ins Gespräch – er feierte übrigens ähnlich wie Fosse: mit einem Bier, allerdings einem kleinen. Blau erzählte mir, dass er Jon Fosse gar nicht kenne, wie er überhaupt immer versuche, „so wenig wie möglich von den Autoren zu wissen.“ Ihm mache es „einfach großen Spaß, mit guten Texten zu arbeiten“. Der 1972 in St. Petersburg geborene Blau ist ein Mann der Farben und Formen, er erweckt Worte anderer zum Leben, verleiht ihnen eine ungeahnte Kraft und Intensität. Entstanden ist so ein Buch, das – zumindest was das Exterieur anbelangt – nur wenig mit dem eher düster daherkommenden norwegischen Original (illustriert von Leong Va) gemeinsam hat. Und auch wenn Fosse und Blau räumlich und zeitlich getrennt voneinander arbeiteten, fangen sie in wechselseitiger Ergänzung die kindliche Perspektive der Welt ein und lassen so auch den erwachsenen Leser und Betrachter in den dargestellten Mikrokosmos eintauchen.
Aljoscha Blau ist einer der jungen 'Stars' am deutschen 'Bilderbuchhimmel'. Dass er 'nur' für ein Kinderbuch ausgezeichnet wurde, enttäuscht ihn schon ein wenig. Ihm wäre es lieber, die Momo für ein Bilderbuch zu bekommen, bei dem er sich „mehr verausgaben, alles durchkonzipieren und ein wenig mit dem Text spielen kann“. Er sieht seine Rolle bei diesem Buchprojekt eher als eine untergeordnete und fühlte sich denn auch „nicht ganz wohl“, als er als einziger der drei Macher des Buches auf die Bühne musste. Fosse und Schmidt-Henkel waren ja nicht da ... „Dabei haben die beiden dieses – meiner Meinung nach – sehr schöne Stück Literatur in die Welt gesetzt, und ich habe es lediglich ‚angekleidet',“ so Blau bescheiden.
Aljoscha Blau malt von innen heraus: So ist die Landschaft eigentlich keine norwegische, „sondern eine aus meinem Kopf“. Anstatt nach irgendwelchen Fotos von Orten zu malen, an denen er nie war, wählte er „einfach das Meer, das hohe Gras und die Kiefernwälder“ der dänischen Halbinsel Jütland als Vorlage, die „ich selbst liebe und kenne“. Und auch die kleinen Protagonisten sind seinen eigenen Kindern nachempfunden. Es sei die „kindliche Seele“ gewesen, die er habe einfangen wollen, so Blau. Ihm sei es um das „Innenleben der Kinder“ gegangen, „das von den Erwachsenen nicht gepflegt und entwickelt, sondern Stück für Stück weggedrängt wird“.
Die Menschen, die ihr persönliches ‚Innenleben' auch im Erwachsenenalter behalten, weiterentwickeln und „nicht für überflüssig erklären“, sind die Menschen, mit denen sich Aljoscha Blau am liebsten umgibt. Allen voran ist das seine Frau Isabelle Pin, ebenfalls Illustratorin, mit der er sehr viel über Bilder und Geschichten redet. Das ist aber auch Rüdiger Stoye, bei dem er in Hamburg an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften studierte und der ihn künstlerisch maßgeblich prägte. An der Hamburger Talentschmiede entwickelte sich der oft als ‚eigenwillig' beschriebene Stil Blaus. Dieser Stil lässt sich aber ebenso wenig festlegen wie der junge Künstler selbst. Genauso wie Blau auch bei seiner Garderobe „eher für maßgeschneiderte Sachen ist“, wie er lakonisch bemerkt, versucht er, sich auch für jedes Buch etwas Neues, Eigenes und Spezielles einfallen zu lassen. Entstanden ist große Literatur mit außergewöhnlichen Illustrationen – nicht nur für kleine Leute!
Malte Weber