Els Beerten
Els Beerten, 1959 in Belgien geboren, ist erfolgreiche Autorin von fast zwanzig Kinder- und Jugendbüchern. Für "Als gäbe es einen Himmel" erhielt sie insgesamt vier belgische und niederländische Literaturpreise, auch für den Deutschen Jugendliteraturpreis in der Sparte "Jugendbuch" und den "Buxtehuder Bullen" wurde sie nominiert. In ihrem historischen Roman liefert Els Beerten einen differenzierten und tiefen Einblick in das Leben in Belgien während des Zweiten Weltkriegs und danach.
1. Wie sind Sie zum Schreiben gekommen?
Wegen meines aktiven Charakters wurde ich in der Schule oft bestraft. Mit zehn Jahren hatte ich eine Lehrerin, bei der ich oft auf der 'Eselsbank' sitzen musste – einer Bank hinten im Klassenzimmer, auf die man beordert wurde, wenn man sich schlecht benommen hatte. Ich hatte gute Noten – aber ich benahm mich nicht gut. Ich redete zu viel und hatte zu viele Fragen. Auf dieser 'Eselsbank' schrieb ich dann meine erste Geschichte. Die Lehrerin las sie, und obwohl sie mich nicht mochte und entgegen meinen Befürchtungen gefiel sie ihr. Da bemerkte ich, dass ich ein Talent hatte, dass ich, das Mädchen, das so oft wegen seiner Eigenheiten bestraft wurde, andere mit meinen Geschichten glücklich machen konnte.
Ich habe immer so viel zu sagen. Manchmal höre ich “Weißt Du, wenn du jetzt Kind wärst, bekämst du dafür vermutlich Medizin. Vermutlich bist du hyperaktiv.” Ich bin sehr froh, dass ich in einer Zeit aufwachsen durfte, in der ich für meine vorlaute Art nur bestraft wurde. Sie ist Teil meines Schreibens.
2. Warum haben Sie sich für dieses Thema entschieden?
Dieses ist mein fünfzehntes Buch. Aus Erfahrung weiß ich, dass ich nicht eine fertige Geschichte erfinden sollte. Das habe ich einmal getan, und es hat nicht funktioniert. Das ist mir auch zu langweilig. Das Erschaffen der Geschichte ist es, was mir Spaß macht. Ich warte auf Bilder in meinem Kopf, die an mein Gehirn klopfen und sagen “Mach etwas aus mir”.
In diesem Fall ging ich von einer Frage aus: Würde ich überleben, wenn ich etwas täte, von dem ich überzeugt wäre, dass es 'gut' ist – und am Ende von der ganzen Welt dafür verurteilt würde? Würde ich überleben? Oder würde ich mich umbringen?
Woran ich immer wieder denken musste, waren die Geschichten, die mir mein Vater erzählt hatte. Er hatte den Zweiten Weltkrieg als Kind erlebt. Seine Familie war nicht in den Krieg involviert gewesen: Weder hatten sie mit den Deutschen kollaboriert, noch waren sie Teil des Widerstands gewesen. Ich hatte lange etwas aus seinen Geschichten machen wollen, wollte aber nicht die Geschichte meines Vaters erzählen. Er hat mir oft von einem Jungen aus seinem Ort erzählt, der an der Ostfront gekämpft hatte. Ich wuchs in Belgien in einer Umgebung auf, in der man davon ausging, dass mit diesen Menschen, die mit den Deutschen kollaboriert hatten, etwas nicht stimmte, dass sie eine Art 'genetischen Defekt' hatten.
Dann dachte ich wieder über meine Eingangsfrage nach. Ich war über vierzig und hatte im Leben gelernt, dass es nicht nur schwarz und weiß gibt und ich dachte mir: Das muss ich herausfinden.
3. Ihr Buch ist sehr realistisch. Wie sind Sie beim Schreiben vorgegangen? Wie haben Sie recherchiert?
Nun, ich habe mit meiner Frage angefangen und mit dem Vorsatz, ihr auf den Grund zu gehen. Ich wollte sehen, wie weit ich damit käme. Ich las einige Romane, dann wiederum wollte ich sie nicht lesen, weil es sie ja bereits gab. Ich las einiges über Stalingrad, und ich hatte einen Bildband mit Bildern von der Ostfront. Aber ich merkte, dass ich nichts wusste – ich brauchte Menschen, die mir halfen. Im belgischen Fernsehen gibt es eine Reihe von Sendungen über den Zweiten Weltkrieg. In einer solchen Sendung sah ich einen Mann, der an der Ostfront gekämpft hatte. Ich dachte, dass er, wenn er schon im Fernsehen darüber spräche, vielleicht auch bereit sei, sich mit mir zu unterhalten. Ich konnte nämlich niemanden finden. Niemand wollte darüber reden – es ist noch immer ein Tabu. Ich rief ihn also an, und er lud mich zu sich nach Hause ein.
Wir trafen uns einige Male und schrieben uns E-Mails. So hatte ich ihn und noch einen weiteren Zeitzeugen seiner Generation. Ich sprach auch mit Menschen, die sich im Widerstand engagiert hatten und mit anderen, die als Beobachter nicht involviert gewesen waren. Außerdem traf ich mich mit einem Historiker, der mir noch einen Film über Konzentrationslager gab, der mich auch sehr beeinflusst hat.
Ich wollte nicht so arrogant sein, aus einer jüdischen Perspektive zu schreiben. Ich bin keine Jüdin. Aber ich brauchte die Konzentrationslager, um das ganze Bild zu erfassen, aus allen Winkeln. Mir war klar, dass das eine große Sache war. Ich habe mir immer wieder gesagt, dass ich nicht ein Buch über den Krieg schreibe, sondern ein Buch über einen Jungen.
Dann musste ich immer alles doppelt prüfen. Es war sehr schwierig, weil ich ja nicht wusste, wie es gewesen war. Ich musste Menschen vertrauen und gleichzeitig wusste ich nicht, wie viel ich ihnen glauben konnte.
Wards Wendepunkt an der Ostfront zum Beispiel: Ich habe einen deutschen Freund, dessen Vater in der Hitlerjugend war. Der erzählte mir, wie er als Junge in der 'Kristallnacht' umherlief und glücklich war. Und er erzählte mir auch, wie sehr er sich später dafür schämte. Er merkte dann, dass er etwas Schlechtes tat, als er an der Ostfront kämpfte. Sein Sturmbannführer gestand ihm, dass er als Bestrafung an die Ostfront versetzt worden war. Und dass jeder wusste, dass man an der Ostfront starb. Wenn Ward also begriffe, dass sein großes Ideal, für die 'Guten' zu kämpfen, in Wirklichkeit nichts anderes bedeutete, als sein Leben für einen Apparat zu opfern – dann würde ihm das helfen zu verstehen. Ich bekam also Anregungen aus vielen Richtungen.
4. Sie selbst sind gebürtig aus Hasselt. Wie viel von Ihrer eigenen Geschichte ist in Ihrem Buch?
Das Einzige, das ich aus meiner Familie genommen habe, ist die Geschichte von Remi – die Sache mit dem Pass. Einer meiner Onkel malte einen Schnäuzer auf den Pass eines anderen Onkels. Der musste dann beinahe in ein Konzentrationslager, weil die Deutschen dachten, er hätte seinen Pass manipuliert, um seine Identität zu vertuschen. Das ist also alles wahr.
5. Warum wünschen sich ihre Figuren, Helden zu sein?
In meinem vorangegangenen Buch “Lauf um dein Leben” ist die Protagonistin eine sehr unsichere Person. An einer Stelle findet sie dann heraus, dass es im Leben vielleicht auch nur darum geht, es zu versuchen. Es geht nicht darum, den Nobelpreis zu gewinnen, sondern darum, mit allen Genen, die man hat, und mit allen Möglichkeiten, die sich bieten, herauszufinden, was man erreichen kann. In diesem letzten Buch habe ich meine Vorstellung darüber, was ein 'Held' ist, geändert.
6. Musik ist ein wichtiger Bestandteil Ihres Buches. Warum?
Warum die Blaskapelle? Ich suchte nach einem Faktor, der alles zusammenhielt. In meiner Familie spielten alle in einer Blaskapelle. Mein Großvater hatte sie sogar gegründet. Ich hielt Blaskapellen immer für bescheuert, immer nur “humpapa, humpapa, humpapa”. Ich spielte Gitarre, was ja cool war …
Als dann aber mein Großvater starb und die Blaskapelle an diesem sonnigen Tag die Prozession von der Kirche zum Grab begleitete, war ich hingerissen: Sie spielten so wunderschön. Ich erinnere mich daran, wie ich denke: Wenn ich mein Leben ändern könnte, ich wäre gerne in einer Blaskapelle. Das kann ich in meinem Buch leben, und so erschuf ich die Band. Am Anfang hatte ich eine ziemlich romantische Vorstellung davon, wie die Blaskapelle weiterspielen würde, obwohl der Krieg ausbricht. Und wie Ward dann nach dem Krieg aus einem Straflager in das Dorf zurückkehrt und durch seine Musik und sein Spiel die anderen so berührt, dass er wieder im Dorf aufgenommen wird.
Im Laufe meiner Recherche fand ich dann heraus, dass die Deutschen 1942 alle Blasinstrumente konfisziert hatten um sie für Waffen und Munition einzuschmelzen. Alle Blaskapellen waren gezwungen aufhören, und die Musiker versteckten ihre Instrumente. Sie gruben sie ein. Andere kollaborierten und spielten deutsche Musik. Meine Blaskapelle musste also aufhören!
Als ich dies herausfand, hatte ich bereits sehr viel über die Band geschrieben – und ich hatte ein Problem. Aus diesem Grund beginnt das Buch 1942 und springt dann nach 1945. Dazwischen passierte nichts in der Blaskapelle.
Auch das Ende, das ich mir vorgestellt hatte, war dann nicht mehr möglich. Wenn man – wie Wards Mutter – auch nur einen Laden hatte, in dem Deutsche einkauften, war man bereits verdächtig, ein Kollaborateur zu sein. Nach dem Krieg wurden dann in Belgien etwa 500.000 Menschen als Kollaborateure verhaftet. Nach ein paar Jahren wurden 87 Prozent von ihnen ohne Prozess wieder entlassen. Ich dachte zunächst, das wäre eine gute Sache. 87 von 100 Menschen durften gehen, vermeintlich hatten sie Glück. Aber tatsächlich hatten sie ja gar keine Gelegenheit, ihre Unschuld zu beweisen, und so blieben sie verdächtig. Ein Mann sagte mir, für ihn hätte es nichts Schlimmeres gegeben als die Befreiung. Ich war immer davon ausgegangen, dass die Befreiung nur eine gute Sache gewesen sei. Aber diese Menschen wurden sehr schlecht behandelt.
Ward konnte also nicht in das Dorf zurückkehren, und ich konnte das Buch auch nicht damit beenden, dass er in die Blaskapelle zurückkehrt.
7. Wen möchten Sie mit Ihrem Buch erreichen?
Ich schrieb das Buch für viele Menschen. Schon während meiner Recherche merkte ich, dass ich an etwas Wichtigem arbeitete. Nach der Veröffentlichung erhielt ich viele berührende E-Mails und Anrufe von älteren Menschen, die mir für mein Buch dankten. Aber auch von Menschen, die um die fünfzig und sechzig Jahre alt waren, die nun verstanden, was sich vor langer Zeit in ihren Familie abgespielt hatte. In Belgien waren nach dem Krieg alle verstummt.
Am Anfang dachte ich, jungen Leuten würde mein Buch nicht gefallen, weil es zu sehr den Krieg behandelt und ihnen vielleicht die Voraussetzungen fehlen, alles verstehen zu können. Aber ich stelle fest, dass ich, wenn ich in Schulklassen bin, oft von den Schülerinnen und Schülern besonders zu den Themen Freundschaft und Verrat befragt werde – und dass sie oft sehr emotional auf das Buch reagieren. Diese Themen waren ja sogar mein erster Impuls, das Buch zu schreiben. Ich denke also, dass sie es verstehen. Und dabei nehmen sie auch wahr, dass Krieg eben kein Spiel ist.
8. Was inspiriert Sie?
Alles. Ich benutze die Bilder, die ich in meinem Kopf habe. Die Bilder, die immer wieder zu mir zurückkommen. Ich werde inspiriert von Dingen, die mir oder meiner Familie passieren ... Es sind viele Dinge, die da zusammenkommen.
9. Was sind Ihre nächsten Projekte?
Ich schreibe gerade ein Buch. Tatsächlich arbeite ich schon seit August 2008 daran. Ich wollte kein weiteres Buch wie “Als gäbe es einen Himmel” schreiben. Das wäre ein großer Fehler. Und nach einer Menge harter Arbeit stellte ich dann fest, dass ich bloß versucht hatte, ein noch besseres Buch zu schreiben. Nachdem ich nun vor einigen Wochen noch einen weiteren Preis in Belgien gewonnen habe, dachte ich sogar kurz darüber nach, ganz mit dem Schreiben aufzuhören. Es ist so eine schwere Arbeit. Doch dann dachte ich: “Wie kann ich keine Schriftstellerin sein? – Ich bin eine Schriftstellerin!” Das ist Teil von mir. Es war, als würde ich sagen: “Ich habe jetzt keine Arme mehr.” Und ich habe nochmal von vorne angefangen. Jetzt versuche ich, nur noch zu schreiben, wenn es mir gefällt, und ich versuche, nicht mehr zu kämpfen. So fühlt es sich richtig an.
10. Und worum geht es?
Um eine Frau, die im wahrsten Sinne des Wortes festsitzt. Ich möchte sie vom Stuhl bekommen.