Günter, Mirijam: Die Stadt hinter dem Dönerladen: Jugendroman
Wenn der Wille zu groß ist
von Nadine Bieker (2015)
Die fünfzehnjährige Nicki, Protagonistin in Mirijam Günters neuem Jugendroman „Die Stadt hinter dem Dönerladen“, führt uns mit dem Statement in die Erzählung ein, dass sie nie wieder zur Schule gehen werde, und das hat auch einen Grund: Seit ihre beste Freundin Jessica „verschwunden“ ist, kommt Nicki in ihrem alten Leben nicht mehr zurecht.
Nicki ist ohne ihren Vater aufgewachsen, die Mutter hat laufend neue Männerbekanntschaften und ist die Summe aller ‚Midlife-Crisis‘-Klischees. Nicki hat kein Interesse, die Liebhaber ihrer Mutter kennenzulernen, vor allem seit Rainer nicht mehr mit ihrer Mutter zusammen ist. Er hat den Menschen verkörpert, den Nicki gerne ihren Vater genannt hätte.
Nicki weiß nichts mit ihrer Zeit anzufangen. Sie setzt sich auf die Treppenstufen eines Dönerladens (wie sie dort hingekommen ist, erfährt man nicht) und wird von zwei jungen Männern angesprochen: „Einer war ein etwas dunkelhäutiger schwarzhaariger Ausländer, der andere war Afrikaner.“ Wie sich im Laufe der Erzählung herausstellt, ist erstgenannter ein „Illegaler“, der sich „Deco“ nennt, und der andere, „Stefan“, jemand, der sich freiwillig für „Illegale“ wie Deco einsetzt.
Soweit die Eckdaten des Romans, die das Potenzial für eine spannende Erzählung hätten. Allerdings steht der Roman sich zu häufig selbst im Weg, um eine solche zu werden. Die Figuren entsprechen teilweise stereotypen Vorurteilen, sind gleichzeitig in ihrem Verhalten oftmals nahezu willkürlich und konträr, sodass deren Charakterisierungen kaum glaubhaft wirken. Die Leser können deshalb kaum jemanden als Identifikationsfigur ansehen (und dabei ist es egal, um welche Figur es geht): Nicki, die schon bald zu naive Fünfzehnjährige, die, so scheint es, bisher völlig an der Realität vorbei gelebt hat, Rainer, ein Polizist, der sich manchmal ein bisschen zu weit ‚rechts‘, dann wieder sehr weit ‚links‘ durch seine Äußerungen positioniert, Deco, der zutiefst ungerecht und von allen im Stich gelassene „Ausländer“, der manchmal vernünftiger als alle anderen erscheint und dann wieder als ‚Macho‘ und ‚Draufgänger‘ präsentiert wird, und der als Gutmensch auftretende Stefan, der alsbald sein Wissen zu seinen Gunsten auszunutzen weiß. Es ist erstaunlich, wie sehr man dem Roman anmerkt, kritisch sein zu wollen, und dieser dabei selbst Bilder erzeugt, die viel zu plakativ und pauschalisierend sind. Keine der Figuren durchlebt eine Wandlung, alle bleiben eindimensional, vor allem die Protagonistin selbst.
Eine Katastrophe jagt die nächste: Die Steigerung von Quantitäten und Qualitäten ist kaum zu übertreffen und kulminiert in einem Ende, das die Lesenden sprachlos zurücklässt. Sprachlos deshalb, weil das Ende, in dem die Autorin ein Statement hätte setzen können, trotz seiner Tragik beinahe nichtssagend oder vielmehr dem wohl intendierten Kernanliegen diametral entgegen ist: Das Ende ist gerade kein, den Rückentext zitierend, „wilder Aufschrei über die soziale und politische Situation Deutschlands.“ Durch Decos Tod hätte Günter den anderen Figuren eine Stimme geben könne, sie auf der Beerdigung sprechen lassen können, dass sein Tod zuletzt Resultat einer permanenten Hetzjagd gewesen ist. Stattdessen lässt sie eine der Figuren sagen: „Nein, ich werde in meiner Rede auf der Beerdigung sagen, dass er ein wahnsinnig solidarischer Mensch war, der fast seine gesamte Freizeit geopfert hat, um Flüchtlingen zu helfen“. Eine Lüge, die niemandem weiterhilft, ganz gleich, was sie intendiert. Ein „Aufschrei“ hätte zum Ausdruck gebracht, unter welchen Qualen und Schikanen Deco sein kurzes Leben hat bestreiten müssen.
Mirijam Günter hat uns in ihrem Roman „Heim“ gezeigt, dass sie lebendige, realistisch anmutende Situationen evozieren kann. Leider ist ihr dies in „Die Stadt hinter dem Dönerladen“ weniger gelungen: Eine große Schwierigkeit, den Text ernstnehmen zu können, liegt zum einen in den Dialogen. Diese wirken doch stark konzeptionell schriftlich, konstruiert und floskelhaft. Des Weiteren zeichnen sich beispielsweise die Unterhaltungen zwischen Rainer und Nicki durch starke Redundanzen aus. So dramatisch der Inhalt wirken könnte, mit jeder weiteren Wiederholung verliert er an Gehalt. Zum anderen weist der Roman Zeilen auf, die Bedeutsames aussagen wollen, aber der Wille ist zumeist wohl zu groß gewesen, sodass auch diese Zeilen die angestrebte Bedeutung verlieren: „Was dich fertigmacht, juckt jemand anderes gar nicht, worüber du dich freust, darüber können andere weinen. So einfach funktioniert das Leben und deswegen ist es kompliziert.“ Gerade unterschiedliche Wahrnehmungen erschweren das (geschilderte) Miteinander doch häufig, und etwas, das einfach funktioniert, kann nicht gleichzeitig kompliziert sein. Selbst wenn es einfach erschiene, ist es das noch lange nicht, und das ist wiederum ein sehr großer Unterschied.
Auch inhaltliche Inkongruenzen und Ungereimtheiten erschweren die Lesefreude: ein Polizist, der sich nicht vorschreiben lassen will, was er zu tun hat, dies aber allen anderen vorschreibt, ein „Illegaler“ der zur Schule gegangen ist, der Empfang von unerwünschten SMS, der mit „Erleichtert stellt ich fest, dass ich keinen Empfang hatte“ kommentiert wird, und zuletzt das Anreißen von politischen Szenarien, denen es an Tiefe mangelt.
Günters Wille ist groß, doch das Setting ist zu groß, um etwas Substantielles zu erreichen: Figuren entwickeln sich nicht, wenn man schreibt, dass sie sich entwickeln, Geschichten wirken nicht durch den Wunsch, dass sie es tun, Menschen helfen nicht dadurch, dass sie helfen wollen oder vorgeben zu helfen, eine Liebesgeschichte wird nicht dadurch zu einer, dass die Protagonistin sich innerhalb kurzer Zeit immer wieder neu verguckt (und dies auch nur aufgrund von Äußerlichkeiten), eine Mutter wird nicht verständnisvoll, wenn man sie dies sagen lässt – und ebenso wenig kann ein Roman ein Ausrufezeichen setzen, indem mit diesem Satzzeichen ein wenig zu großzügig umgegangen wird.