Brooks, Ben: Lolito
Postmoderne Selbstverständlichkeiten
von Louisa Martin (2015)
„Hattie und ich haben nie Sex. Wir machen nur Trockenübungen und küssen uns. Sie hat es mir einmal mit der Hand gemacht, aber das tat weh, und ich habe sie gebeten aufzuhören. Es macht Spaß. Es spielt keine Rolle, dass James und Alice existieren, weil wir nichts falsch machen, denn wir tun niemandem weh. Alice hat etwas falsch gemacht. Das weiß ich, weil es mir wehtut. Sie hätte es mit hundert Leuten treiben können, und wenn ich es nicht herausgefunden hätte, hätte sie nichts falsch gemacht. Die Leute sagen zu viel Gutes über Ehrlichkeit, aber ich glaube, Ehrlichkeit ist wie eine Piñata ohne was drin. Man sollte andere Menschen glücklich machen, und dafür muss man nicht ehrlich sein.“
Der fünfzehnjährige Etgar berichtet hier über seine Sicht der Dinge. Mit ihm lernt man eine relativ zwiespältige Figur kennen: Einerseits denkt er über viele Dinge oder Situationen nach und ist – zumindest für einen Fünfzehnjährigen – durchaus reflektiert. Dinge, die er (noch) nicht definieren oder wirklich nachvollziehen kann, beschreibt er durch eine starke Bildlichkeit, vor allem, um sie sich selbst verständlich zu machen. Andererseits lässt sich Etgar von den pubertären Spinnereien seiner Freunde beeinflussen, übernimmt unreflektiert Handlungsweisen, die ‚man‘ so macht, und wagt die ersten Schritte in „Die Welt Da Draußen“, die neben seiner eigenen Welt existiert und ihm zudem Sorgen bereitet: „Die Welt Da Draußen fühlt sich nicht wie eine Party an. Sie fühlt sich bedrückend und kalt an.“
Etgar ist längere Zeit alleine zu Hause, da sich seine Eltern auf einer Hochzeit in Russland befinden; auch seine Freundin Alice ist verreist. Diese soll vor einer Weile auf einer Party von einem anderen Jungen wider ihren Willen berührt worden sein, doch ganz traut Etgar dieser Aussage seiner Freundin nicht. Er gibt sich in Facebook als Alice aus und findet heraus, dass Alice nicht belästigt worden ist, sondern ihn betrogen hat.
Aus Frust und großer Enttäuschung über diesen ‚Schock’ durchstöbert er im Internet Singlebörsen und Chatrooms für Erwachsene. Dort trifft er Macy, mit der er sich in eine Cyber-Affäre stürzt – dass diese ca. dreißig Jahre älter ist, weiß er zunächst nicht. Etgar gefällt die Rolle des ‚Hon’, die er in der virtuellen Welt annimmt, sehr – allerdings nur bis zu dem Zeitpunkt, an dem sich Macy mit ihm treffen möchte.
Eigentlich will der Junge ein ‚echtes’ Treffen mit Macy vermeiden, kann der Situation jedoch nicht mehr ausweichen, als Macy konkret ein ‚Date’ in London vorschlägt. Von seiner Rolle als angeblicher Hypothekenmakler beeinflusst, beschließt Etgar, dass es nun seine Aufgabe sei, ein Hotelzimmer zu buchen. So gibt er tausend Pfund seines von der Großmutter geerbten Geldes für das Treffen mit Macy aus. Diese entpuppt sich als 46-jährige Schulleiterin mit Kindern und gesteht Etgar zudem, dass sie verheiratet sei. Obwohl Macy Etgar bereits im Chat durchschaut hat, lässt sie sich dennoch auf das ‚Spiel’ mit Etgar ein, der vorgibt, volljährig zu sein.
Der Roman des erst 23-jährigen britischen Schriftstellers Ben Brooks ist nicht nur inhaltlich, sondern vor allem auch sprachlich ein großes Vergnügen: Der Autor beschreibt authentisch die Sichtweise eines Jugendlichen, der sich den (generationsübergreifenden) Problemen und auch Gefahren in der Zeit des Erwachsenwerdens stellen muss. Hierbei bedient sich der Protagonist häufig einer jugendlichen Sprechweise – keine leichte Kost für Lesende, die sich nicht gerne mit Schimpfwörtern, sexistischen Kommentaren und einer ‚strong language’ befassen. Dennoch macht gerade Edgars Sprache die Welt, in der er lebt und aus der er aus der Ich-Perspektive berichtet, für die Lesenden besser nachvollziehbar und bringt diese an einigen Stellen auch durchaus zum Lachen.
Auffällig sind ebenfalls die eingeschobenen ‚Alice-Gedichte’ sowie ein ‚Macy-Gedicht’, die von Etgar stammen. Er ist einerseits fasziniert von Alice, da er sie noch immer liebt, hasst sie jedoch gleichzeitig für das, was sie ihm angetan hat. In den ‚Alice-Gedichten’, die in der Du-Form an Alice gerichtet sind, verbalisiert er seine ‚Hass-Liebe’: Seine tiefe Verletztheit kommt deutlich zum Ausdruck, aber auch seine Unfähigkeit, damit anders umzugehen, als Alice zu beschimpfen und all das schlechtzumachen, was er eigentlich an ihr liebt.
Brooks gelingt es in seinem Roman, dem völlig neuen Selbstverständnis der heutigen Jugend lebendigen Ausdruck zu geben: Deren Verhältnis zu den Eltern ist konfliktfrei und von gegenseitigem Vertrauen geprägt, gelernt wird voneinander, nicht in altershierarchischer Abhängigkeit („Seit ich neun bin, kommt Dad regelmäßig auf das Thema zurück. Er weiß nicht, wie er mit einem männlichen Menschen umgehen soll, der vor Sachen Angst hat. Er glaubt, Angsthaben wäre was für Frauen, Schwule und unter Neunjährige.“), die Bedingung für (auch sexuelle) Zuneigung ist ebenfalls nicht mehr primär an das Alter geknüpft, und Etgar selbst zeichnet sich als ein Jugendlicher aus, der zwischen dem Wunsch nach Individualität und dem unbemerkten Übernehmen fremder Denk- und Verhaltensmuster schwankt. Daraus resultiert eine postmoderne Persönlichkeit, die erkennt: „Ich weiß definitiv, dass ich etwas tun will, aber ich habe keine Ahnung, was.“ Mit dem Wunsch, etwas tun zu wollen, ist Etgar dem Stereotyp postmoderner Adoleszenz dennoch weit voraus.
Auch Intermedialität spielt in dem Roman eine große Rolle, da Brooks Etgar immer wieder Film- bzw. Serientitel und bekannte Songs aufgreifen lässt – aber auch hier nicht, um Bezüge darzustellen, sondern um die Realität abzubilden, in der der Junge sich bewegt. So werden z.B. Titel wie Friends, Parks & Recreation, Vergiss mein nicht! oder Tatsächlich … Liebe erwähnt: „Wir gehen nach oben, legen und aufs Bett und legen Titanic ein. Hattie guckt Titanic ungefähr alle drei Tage. Sie sagt, das rückt die Dinge in die richtige Perspektive“. Es ist nicht die Realität, es sind nicht reale, eigene Handlungen, die „die Dinge“ geraderücken, es sind immer von außen übernommene Anregungen. Dieser Aspekt zeigt sich auch daran, wie die Nachrichten beschrieben werden. Etgar nimmt nur das wahr, was ihn interessiert, dichtet den Nachrichten Ereignissen aus seinem Leben bei, und es ist nicht immer auszumachen, ob die anderen Ereignisse nicht ebenfalls von ihm erdacht sind.
Die Präsenz der Medien zeigt sich auch daran, dass viele metafiktionale Elemente in die Handlung integriert sind: Die wörtliche Wiedergabe von E-Mails und Kurznachrichten sowie die Kennzeichnung von Lautstärke durch eine veränderte Typographie sind keine Seltenheit. Dadurch (und auch durch die szenische Wiedergabe der gerichtlichen Zeugenbefragung am Schluss) wird die Konstruiertheit des Romans hervorgehoben – Brooks versucht gar nicht erst vorzugeben, er bilde die Realität ab.
Auch die Kapiteleinteilung des Romans ist besonders: Die insgesamt 45 Kapitel sind fünf größeren Teilen untergeordnet mit den Titeln: „Titanic“, „Feucht“, „Gleichzeitig“, „Muttermal“ und „Geweih“. Alle Titel nehmen inhaltlich Bezug auf die Handlung. So sehen sich Etgar und eine Freundin in Teil eins z. B. den Film Titanic an. Teil zwei mit dem Titel „Feucht“ ist zum Großteil von den Sex-Chats mit Macy geprägt. Beginn und Schluss der Handlung sind durch einen Prolog und einen Epilog markiert, die so aber nicht benannt werden. Die Verbindung zwischen dem Prolog und dem folgenden Teil der Erzählung muss durch die Rezipierenden selbst hergestellt werden. Allerdings findet sich eine markante Parallele zwischen dem Prolog und dem Epilog: Beide beginnen damit, dass Etgar benennt, wie alt er ist. Dadurch wird nicht nur angezeigt, dass er tatsächlich älter, sondern auch reifer geworden ist – und das durch Erfahrungen, die nicht alle gutgeheißen haben.
Macy und Etgar nehmen das Verhältnis, welches sie zueinander haben, sehr ernst. Etgar sieht in Macy nach seiner Enttäuschung durch Alice nicht nur eine Bezugsperson, sondern auch die Möglichkeit gegeben, mit ihr zumindest kurzzeitig eine erfüllte Zeit zu verbringen. Vor allem aber wird er von Macy ernstgenommen. Macy hingegen, die von ihrem Mann geschlagen wird, sucht nach Zuwendung und Anerkennung – und bekommt diese von Etgar. In ihm findet sie einen guten Zuhörer und muss keinerlei Verpflichtungen eingehen.
Auch wenn die Handlung in der Gegenwart spielt, sind immer wieder einzelne Kapitel eingefügt, in denen Etgar von vergangenen Erlebnissen – meist mit Alice – berichtet. So erfährt der Leser z. B., dass Alices Mutter an Krebs starb oder Etgar als kleiner Junge seine tote Großmutter vorfinden musste. So greift der – trotz aller ‚Hindernisse‘ für den Protagonisten – überwiegend positiv gestimmte Roman auch traurige Momente im Leben dieser jungen Menschen auf.
Mit dem Titel „Lolito“ nimmt Brooks intertextuell Bezug auf den weltbekannten Roman „Lolita“ des russisch-amerikanischen Schriftstellers Vladimir Nabokov. In diesem Roman aus den 1950er Jahren geht es um die pädophile Liebe eines Literaturwissenschaftlers zu dem anfänglich zwölfjährigen Mädchen Dolores, das dieser selbst ‚Lolita’ nennt. Aufgrund seines männlichen Protagonisten hat sich Brooks für die männliche Form des Namens entschieden. Allerdings scheint der Titel wohl mehr als Verkaufsanreiz gewählt worden zu sein und führt denn auch gänzlich in die Irre, da sich Macy und Etgar – ganz anders als Nabokovs Protagonisten – auf ‚Augenhöhe’ begegnen, ihr Verhältnis von gegenseitiger Anerkennung gekennzeichnet ist und jeglicher ‚skandalösen’ Anmutung entbehrt.
Von den sechs Romanen, die der heute in Berlin lebende Autor verfasst hat, wurde neben „Lolito“ in Deutschland bisher der Roman „Nachts werden wir erwachsen“ veröffentlicht. Ben Brooks stand auf der Liste des Dylan-Thomas-Preises und wurde für den Pushcart Preis nominiert. 2014 erhielt Brooks den Jerwood Fiction Uncovered Prize.
„Lolito“ ist ein erfrischender Roman, der ein neues Selbstverständnis heutiger Adoleszenter aufzeigt – und das, ohne zu werten oder zu moralisieren. Gerade die Direktheit der Sprache (Übersetzerin: Britt Somann) und die Offenheit, mit der über alles gesprochen wird, machen das Lesen zu einem besonderen Genuss.
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