Samson, Gideon: Doppeltot
Es kommt immer anders, als man denkt
von Dennis Görke (2015)
Rifkas Freundin sein zu dürfen, das ist das Größte für die zwölfjährige Düveke. Denn Rifka ist der selbsternannte, erbarmungslose „King“ in der Klasse, der alles weiß (auch wenn es nach Düvekes Meinung eigentlich eher „Queen“ heißen müsste). Alle Leute kuschen vor ihr. Nur Düveke ist sicher auf Rifkas Seite, und beide „herrschen über das Volk der Dummtussis und Lödeldödel", wie Rifka ihre Klassenkameraden zu nennen pflegt.
Als „King“ kommt Rifka auf die verrücktesten Ideen, wie einen Telefonstreich bei der Telefonseelsorge, bei dem sie vorgibt, sie sei schwanger von ihrem Bruder. Ein anderes Mal hängt sie den Rucksack des herzkranken Klassenkameraden Mori, den sie nur „dummes Würstchen" nennt, in einem Baum. Doch ihr nächster Streich, sofern man den überhaupt noch so nennen kann, soll die Teilnahme an ihrer eigenen Beerdigung sein. Und zwar nicht im Sarg, sondern als Besucherin unter den Trauergästen.
Weil das nicht so einfach zu bewerkstelligen ist und einer aufwändigen Vorbereitung bedarf, ist Rifka auf Düveke angewiesen, die sie zu ihrer Komplizin macht, wohlwissend, dass Düveke alles für sie täte. Denn Düveke glaubt an den Bund zwischen sich und Rifka, an das „R.D.F.“, das für sie „RIF + DÜÜV FOREVER“ bedeutet. Also lässt sich die naive Düveke von Rifka dazu beauftragen, ihr bei einer inszenierten Entführung zu helfen. Düveke soll alles besorgen: Zelt, Schlafsack, Luftmatratze und alle Dinge, die man sonst noch braucht. Notfalls solle Düveke doch ihre Mutter bestehlen, um das Benötigte kaufen zu können. Doch das Wichtigste überhaupt – und das manifestiert Rifkas Durchtriebenheit – sind die ,authentischen' Erpresserbriefe, die Düveke in bestimmter Reihenfolge aufgeben soll, denn nur die lassen die geplante ‚Entführung’ echt wirken.
Düveke bekommt ein zunehmend mulmiges Gefühl bei der ganzen Sache. Sie möchte den Plan am liebsten stoppen und alles ihrem großen Bruder Olivier erzählen, dem sie alles anvertrauen kann und der alles für sie machen würde, doch sie weiß nicht wie, und sie hat Angst vor Rifka. Denn die sagt: „Wenn Du die Briefe vertauschst, bist Du tot!“ – und ob sie das ernst meint oder nicht, kann man nicht wissen. Doch dann kommt alles anders als geplant. Düveke schickt die Briefe gar nicht ab. Als sie alles zu verdrängen versucht, taucht plötzlich ein dunkles „Viech“ in ihren Gedanken auf, ein schwarzer Schwan, ein Unglücksbote, der unvorhersehbare Ereignisse ankündigt. Mit dem Bild des schwarzen Schwans endet die Erzählung aus Düvekes Sicht.
Der junge und schon preisgekrönte niederländische Autor Gideon Samson („70 Tricks, um nicht baden zu gehen“) schafft mit „Doppeltot“ den Spagat, den ein gutes Jugendbuch thematisch bieten sollte: Der extreme Erfahrungsbereiche auslotenden Kriminalgeschichte entgegengesetzt ist der Bezug zu Alltagserfahrungen. Immer wieder werden Jugendthemen aufgegriffen, wie der erste Kuss oder das mit der Pubertät verbundene aufkommende Interesse an Sexualität. Demgegenüber steht Düvekes kindliche Naivität.
Samson stellt mit Düveke und Rifka zwei Mädchen gegenüber, die unterschiedlicher nicht sein könnten: Rifka, die aus Düvekes Sicht als Alphatier beschrieben wird, ist in Wahrheit ein zutiefst einsames und auch gestörtes Kind und Düveke ihre einzige Freundin, auf deren Zustimmung sie angewiesen zu sein scheint. Dennoch bezeichnet Rifka Düveke als „dösiges Kind“ und nutzt sie eigentlich nur zu ihrem Vorteil aus. Auch macht sich Rifka über Düveke lustig, denn das „R.D.F.“ hat für Rifka eine ganz andere Bedeutung – „Rifka die Fantastische“. Rifka ist allerdings auch abhängig von Düveke, vermittelt diese ihr doch Sicherheit, weil sie berechenbar erscheint – was sich mit Düvekes Abkehr von der vermeintlichen Freundin jedoch schlagartig ändert. Rifkas Bruder Olivier wirkt in dem Geschehen wie ein Spielball, der nicht weiß, wie ihm geschieht, und für Rifkas oder Düvekes Interessen instrumentalisiert wird. Doch die starke Bindung Oliviers zu seiner Schwester ist der Tropfen, der das Fass schließlich zum Überlaufen bringt und zum endgültigen Bruch zwischen Düveke und Rifka führt.
Der jugendliche Sprachstil ist gelungen. Zögern und Zweifeln der Protagonisten wirken authentisch, die wiederholten Vulgär-Anglizismen, mit denen Rifka sich zu inszenieren versucht, sind jedoch sprachlich hölzern und hoffnungslos ‚uncool‘: „Wott... se... fack“. Besonders positiv hervorzuheben sind die drei aufeinanderfolgenden, sich stark unterscheidenden erzählerischen Perspektiven, die die Funktionsweise des Buches ausmachen. Jede Perspektive ist an eine Person geknüpft: Düveke, die als erste Stimme eingeführt wird, wirkt verspielt und unschuldig. Die mit ihr verbundene Ich-Erzählung liefert keine weiteren Informationen, als die Figur weiß. Olivier, auf den im zweiten Teil fokussiert wird, erscheint durch die Er-Erzählung passiv, fast schon marionettenhaft. Dass über ihn erzählt wird, verstärkt den Effekt, dass er auf das Geschehen nur wenig Einfluss hat. Die abschließende Du-Erzählung aus Rifkas Perspektive wirkt beim Lesen ungewöhnlich und hebt die Persönlichkeitsstörung des Mädchens hervor. Dass man sich als Leser von dem „Du“ zunächst angesprochen fühlt, lässt das Lesen anfangs vielleicht anstrengend erscheinen. Auf der Figurenebene macht eine derartige Perspektive aber durchaus Sinn, da Rifka offenkundig nicht von sich spricht, sondern von ihrem paranoischen Ich-Bild, zu dem sie keinen Abstand mehr gewinnen kann.
Den drei Erzählerstimmen sind unterschiedliche, dazu noch versetzte, in sich nicht durchgehend vorgängig erzählende Zeitebenen zugeordnet („Davor“, „Danach“, „Währenddessen“), wobei die abschließende Du-Erzählung chronologisch die mittleren Ereignisse behandelt. Dadurch, dass einzelne Handlungsmomente nicht zur Darstellung kommen, bleiben auch bei einer ‚richtigen‘ Aufordnung des Geschehens Leerstellen. Manche Handlungsepisoden werden dagegen mehrfach aus unterschiedlichen Perspektiven erzählt, wodurch man nach und nach neue Erkenntnisse über das Geschehen gewinnt. Aber erst durch zwei eingefügte Zeitungsartikel kann man das Ende der Geschichte erahnen, das aus den drei Erzählabschnitten nicht hervorgeht, allenfalls angedeutet wird.
Der deutsche Romantitel „Doppeltot“ klingt verräterisch und deutet an, dass jemand zweimal stirbt, was angesichts der von Rifka erhofften Beerdigung wie ein Spoiler verstanden werden könnte. Der niederländische Titel „Zwarte Zwaan“ („Schwarzer Schwan“) spielt vielmehr auf ein unvorhersehbares, möglicherweise schlimmes Ereignis an. Das deutsche Buchcover zeigt zwar die Silhouette eines schwarzen Schwans, aber durch den veränderten Werktitel werden die auf textlicher Ebene wiederholt auftauchenden Schwäne nicht mehr miteinander in Verbindung gebracht. Denn Schwäne spielen in der Handlung eine wiederkehrende Rolle und übernehmen eine leitmotivische Funktion: Düveke zerbricht einen schwarzen Glasschwan ihrer Mutter, und Olivier nimmt die Verantwortung dafür auf sich – womit die Schlusskonstellation der Geschichte vorweggenommen wird. Auf Rifkas ‚Beerdigung‘ wird zudem die Ballettmusik „Der Sterbende Schwan“ gespielt. Der deutsche Titel hat leider keine derart metaphorische Bedeutung.
Ohne Zweifel ist Gideon Samson mit „Doppeltot“ ein spannender, seine Konstruiertheit deutlich ausstellender Jugendroman gelungen, der sich erzähltechnisch als durchaus innovativ erweist. Die komplexe Erzählanlage fordert den jugendlichen Leser, und somit darf eine berechtigte Leseempfehlung ausgesprochen werden.