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Solomonica de Winter:
Die Geschichte von Blue
Aus dem Englischen von Anna-Nina Kroll
Zürich: Diogenes 2014
288 Seiten
€ 14,90/ E-Book: € 13,99
Junge Erwachsene ab 16 Jahren

de Winter, Solomonica: Die Geschichte von Blue

Sehnsucht nach „meinem Zuhause“

von Philipp Wudtke (2015)

In „Die Geschichte von Blue“ erzählt die dreizehnjährige Protagonistin ihre Geschichte, in der sie früh ihren Vater verloren hat, ihre Mutter mit genug eigenen Problemen kämpft und sie sich in einen Menschen verliebt, der von der gleichen Geschichte besessen ist wie sie selbst: „Der Zauberer von Oz“.

In dem ersten von drei Teilen des Romans befindet sich Blue in psychiatrischer Behandlung. Sie erzählt ihrem Arzt, wann und warum sie aufgehört hat zu sprechen, wann und warum sie die Entscheidung dazu getroffen hat, zwei Menschen zu töten. Dabei wechselt sie zwischen der Erzählung über ihre Erlebnisse und der direkten Ansprache an den Arzt. Schnell wird jedoch deutlich, dass Blue dies dem Arzt nicht persönlich erzählt, sondern dass sie ihre Geschichte niederschreibt: Im Alter von acht Jahren hat sie ihren Vater verloren. Bis zu diesem Zeitpunkt ist sie ein glückliches Mädchen gewesen, welches geliebt und wohlbehütet aufgewachsen ist. Sie hatte eine sehr innige Beziehung zu ihrem Vater, sodass sich ihr Leben durch seinen Tod vollkommen verändert hat. Nun ist sie dreizehn Jahre alt und kürzlich mit ihrer kokainsüchtigen Mutter Daisy umgezogen. Die Beziehung zwischen Blue und ihrer Mutter ist ganz anders als die, die das Mädchen zu seinem Vater gehabt hat: Es scheint, als hasse Blue ihre Mutter, sie fühlt sich von ihrer Mutter ungeliebt, zumal diese sie offenbar als Last empfindet: „Ich war die Tochter, von der Daisy sich wünschte, sie wäre nie geboren worden.“ Blue fehlen Antworten auf unendlich viele Fragen, ihr fehlt die Liebe und die Zuneigung ihrer Mutter, das Verständnis, das ihr Vater ihr immer entgegengebracht hat: „Daisy glaubte, ich hätte nur zum Spaß aufgehört zu sprechen. Doch ich wartete nur darauf, dass jemand mein Schweigen hörte. Ich wartete darauf, dass jemand meine stummen Schreie hörte. Aber niemand hörte sie.“ Schon lange ist ihre Mutter nicht mehr in der Lage, sich um ihre Tochter zu kümmern. Manchmal scheint es, als übernehme Blue die Mutterrolle, kontrolliert sie Daisy doch sogar auf den Besitz von Drogen. Mit kleineren Jobs versucht Daisy sich und ihre Tochter über Wasser zu halten – so berichtet es zumindest Blue in ihrer Erzählung.

Das Wichtigste, was Blue von ihrem Vater geblieben ist, ist sein absolutes Lieblingsbuch „Der Zauberer von Oz“. Lyman Frank Baums Kinderbuchklassiker gibt ihr Kraft und Mut und ist ihr ständiger Begleiter, obwohl sie ihn schon unzählige Male gelesen hat. Für sie ist das Buch viel mehr als bloße Lektüre oder ein Gegenstand der Erinnerung. Es stellt ihren Lebensmittelpunkt dar und ist ihre einzige Möglichkeit, sich kurzzeitig in eine Traumwelt zurückziehen zu können. Blue wird in ihrer Fantasie zu Dorothy, der Hauptfigur aus Baum Werk, die es durch einen Wirbelsturm ins Zauberland Oz verschlägt und die Hexen und Zauberer besiegen muss, um wieder nach Hause zu gelangen.

Blues Vater ist ums Leben gekommen, als er versucht hat, eine Bank auszurauben, um seine Schulden zu begleichen. Eines Tages sieht sie James, den Mann, dem ihr Vater das Geld geschuldet hat und der in ihren Augen somit Schuld am Tod ihres Vaters ist, der Schuld an ihrem eigenen Unglück hat. Deshalb beschließt sie: James muss sterben. Sie folgt ihm unentwegt und beobachtet jeden seiner Schritte. In ihr steigt eine immer größer werdende Mordlust auf. Ihr Geist ist besessen von der Vorstellung, James möglichst brutal zu töten, wobei ihre Fantasien davon immer detaillierter und blutreicher werden. Nur durch den Tod des vermeintlichen Mörders ihres Vaters glaubt sie, wie Dorothy in ihrem Buch, endlich wieder ‚nach Hause‘ kommen zu können und ihre Welt wieder in Ordnung zu bringen.

Seit dem Tod ihres Vaters hat Blue kein Wort mehr gesprochen. Dabei ist ihr gleichgültig, was andere über sie denken. Vom Großteil ihrer Umwelt wird sie als verrückt abgestempelt. Einzig der etwas ältere Charlie, den sie laut ihrer Erzählung in einem kleinen Supermarkt kennengelernt hat und der ihre Begeisterung für den „Zauberer von Oz“ teilt, akzeptiert Blue wie sie ist und freundet sich mit ihr an. Durch ihn wird ihre Welt wieder etwas fröhlicher. Charlie ist geduldig mit ihr, liebevoll und voller Zuneigung, weshalb sie zum ersten Mal nach fünf Jahren des Schweigens wieder einzelne Worte spricht. In ihren Beziehungen zeigt Blue sehr stark kontrastive Gefühle – auf der einen Seite die Liebe zu Charlie, der ihr Schlüssel ist, aus der Sprachlosigkeit herauszutreten, und auf der anderen Seite den Hass auf James, den vermeintlichen Grund für ihr zerstörtes Leben.

Die beiden nachfolgenden Teile des Romans werden wie mit einem Paukenschlag eröffnet. Was folgt, ist völlig überraschend und am Ende doch nachvollziehbar. Alles ist ganz anders, als es scheint, denn die Krankenakte der psychiatrischen Klinik, in der Blue sich aktuell aufhält, enthält starke Abweichungen von Blues Erzählung und lässt den ersten Teil des Romans durchgängig unzuverlässig erzählt erscheinen.

Blues Sprache beziehungsweise der Stil dessen, was sie niederschreibt, will nicht recht zu einer Dreizehnjährigen passen: Sie ist sehr redegewandt und benutzt eine Sprache, die deutlich älteren Erzählern zuzutrauen ist, was wiederum im Gegensatz zu ihrer kindlichen Naivität steht, mit der sie die Erzählung um Dorothy wortwörtlich nimmt. Blues Schilderung ihres Lebens ist geprägt von einer enormen Traurigkeit, stark ausgeprägtem Hass und einer Brutalität, die einer Dreizehnjährigen kaum zuzutrauen ist. Durch diese Intensivität ist es aber möglich, den Gedanken und Gefühlen Blues unmittelbar zu folgen. Trotz des jungen Alters der Protagonistin ist „Die Geschichte von Blue“ somit ein Buch für deutlich ältere Leser.

Durch diese Erzählweise bekommt der Leser einen Eindruck von der Verrücktheit des Mädchens. Im Verlauf des Romans erfährt man so, wie sie in der Schule abgestochene Menschen zeichnet, wie aus einem Freund der Feind wird, wie sie die Waffe eines Freundes entwendet, um einen Mord zu begehen, und wie sie immer wieder in das Land Oz flieht, um ihren Schmerzen zu entkommen.

Solomonica de Winter arbeitet in ihrem Roman mit zahlreichen Vergleichen, beispielsweise bei der Beschreibung von Blue, deren Name „nicht blau wie ein Rock oder ein Türkis, nicht blau wie Blaubeeren und nicht blau wie Nagellack“ bedeute, „[s]ondern blau wie salzige Tränen, blau wie eine winzige Blaumeise. Blau wie der Wind, das Meer, der Regenbogen. Das Dunkelblau in den aufziehenden grauen Wolken vor einem Gewitter“. Diese Melancholie, die den Leser durch den gesamten Roman hindurch begleitet, zeigt sich schon auf der ersten Seite.

Der Roman greift immer wieder auf Personen und Situationen aus dem Klassiker „Der Zauberer von Oz“ zurück. Um „Die Geschichte von Blue“ vollständig verstehen zu können, ist es daher empfehlenswert, Baums Werk gelesen zu haben, damit man den wiederkehrenden Verweisen folgen kann.

„Die Geschichte von Blue“ ist Solomonica de Winters Debütroman, den sie im Alter von sechzehn Jahren in englischer Sprache veröffentlicht hat. Ihre Eltern sind in den Niederlanden populäre Schriftsteller: Ihre Mutter ist Jessica Durlacher, ihr Vater der (auch in Deutschland) bekannte Leon de Winter.

Solomonica de Winter schafft es, den Nerv der jungen Erwachsenen zu treffen, indem sie trotz des jungen Alters ihrer Protagonistin durch ihren schonungslosen Stil Interesse weckt. „Die Geschichte von Blue“ baut Spannung auf – immer mit der Hoffnung auf ein Happy End – bis zu dem finalen Paukenschlag, welcher die bisher geschilderte Handlung in ein komplett anderes Licht taucht.

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