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Titelbild
Édouard Louis:
Das Ende von Eddy. Roman
Aus dem Französischen von Hinrich Schmidt-Henkel
Frankfurt am Main: S. Fischer 2015
206 Seiten
€ 18,99 / Kindle Edition: € 16,99
Junge Erwachsene ab 16 Jahren

Louis, Edouard: Das Ende von Eddy. Roman

Das Selbst und die Ängste der Anderen

von Janis Verfuss (2015)

Ein kleines Dorf in der nordfranzösischen Picardie gegen Ende der 1990er Jahre: Jeder kennt jeden, gefühlt gibt es eine Schule, eine Kirche, eine Kneipe. Die Frauen brechen ihre Ausbildungen ab, sobald sie das erste Kind bekommen, werden später Kassiererin oder Hausfrau. Die Männer verlassen die Schule so früh wie möglich, um die körperlich höchst antrengende Arbeit in der Fabrik, dem örtlichen Hauptarbeitgeber, aufzunehmen. Die allgegenwärtige Armut und der allabendliche Pastis führen nicht selten zu Schlägereien und (häuslicher) Gewalt unter den Dorfbewohnern, wobei stets jener schreckliche Mechanismus greift: So tief unten in der Klassengesellschaft kann nur der Hass auf noch ärmere, als tiefer stehend Betrachtete eine Art Lebenskraft verleihen. Also der Hass auf „Araber“, „Schwuchteln“ und (Ehe-)Frauen. Wer in welche Gruppe einzusortieren ist, regeln unbewusste, soziale Codes.

In diesem Dorf wächst ein sensibler Junge, Eddy, heran, der irgendwie nicht recht hierher zu gehören scheint. Seine als „weibisch“ verlachte Art, sich zu bewegen, seine hohe Stimme, sein Desinteresse am Fussball oder seine Angst vor Dunkelheit passen nicht zum stereotypen Bild von Männlichkeit, das im Dorf vorherrscht. Dies jedoch macht Eddy das Leben nicht nur schwer, sondern ist Auslöser für ein sadistisches Mobbing durch Mitschüler, Bekannte und sogar durch die eigene Familie. Erniedrigende Sprüche seiner Eltern, wie: „Muss das sein, dieses tuntige Gefuchtel“, hört der Junge tagtäglich. Als „Schwuchtel“ stigmatisiert, ist er jahrelang Opfer von Misshandlungen, von psychischer und physischer Gewalt; er wird von zwei älteren Schülern regelmäßig verprügelt und gedemütigt, hält dies jedoch geheim aus Angst, die gesamte Schülerschaft könnte in Zukunft in ihm den Prügelknaben sehen und er müsste über die Gründe des Hasses reden. Aber auch unabhängig davon lässt seine Umgebung jeglichen Frust stets an Eddy aus.

Die verzweifelten Versuche des Zehnjährigen, sich selbst zu ändern, ,männlicher’ zu werden, erschrecken und rühren zugleich: Er sucht nach einer Änderungsklinik für ,Leute wie ihn’, zwingt sich zu dem – ihn eigentlich anekelnden – (sexuellen) Kontakt mit Mädchen und versucht in jeder Hinsicht, der Norm, dem Bild des ,echten Kerls’ zu entsprechen, zu dem unter anderem gehöre, alles, was irgendwie als ,schwul’ gelten könnte, öffentlich zu verachten. Er läuft nach einem Besäufnis demonstrativ nicht wie alle seine Freunde nackt über den Fussballplatz, sondern beschimpft diese als „Schwuchteln“. Er verlässt den Raum, als seine Freunde gemeinsam Pornofilme anschauen und masturbieren. Weil es im Dorf als besonders männlich gilt, geht Eddy mit einem Mädchen: Laura ist aus der Stadt ins Dorf gezogen ist und wird dort grundlos, aber allgemein „Schlampe“ genannt. Sobald Eddy hier und da Bewunderung oder Erstaunen erntet, durchströmen ihn die Glücksgefühle – bis er die nächste stigmatisierende Beleidigung zu hören bekommt. So schlagen Eddys Versuche, als ‚normaler’ Junge durchzugehen, früher oder später fehl, und es wird ihm (durch seine Erregung im homosexuellen Kontakt) immer bewusster, dass er eine Sinnlichkeit entwickelt, die er sich selbst gegenüber nicht länger leugnen kann: eine geheime Gewissheit, die die schlimmste Folter für den Heranwachsenden darstellt, der es in seiner Umgebung als widernatürlich empfinden muss, sein wirkliches Selbst zu lieben. Ein Kind, das, von äußeren Zwängen bedrängt, extrem unter dem Wunsch leidet, nicht mehr es selbst sein zu wollen. Das letzte Scheitern seiner Bemühungen, ,normal’ zu werden, sieht er letztendlich in seiner Entscheidung, das Dorf zu verlassen, zu fliehen.

Im Theaterspielen begabt, erhält er zu der Zeit, da er seine Flucht beschließt, die Möglichkeit, ein entsprechendes Gymnasium in der Départementhauptstadt zu besuchen und dort im Internat zu leben. Nachdem sein Vater ihm die ersehnte Aufnahmebestätigung einen Monat lang verschweigt, verlässt Eddy schließlich ohne jeden Zweifel sein Heimatdorf, um in der fremden Umgebung gänzlich neue soziale Codes und Hierarchien kennenzulernen. Er erkennt, dass die Art, sich zu kleiden, zu essen oder sich zu bewegen, die er in seinem Heimatdorf als „schwul“ zu bezeichnen gelernt hatte, in den bürgerlichen Familien seiner neuen Mitschüler durchweg der Norm entspricht und ist schließlich in der Lage, sich „eine Identität gegen [s]eine Eltern, gegen [s]eine Herkunft“ aufzubauen.

Édouard Louis’ in Teilen autobiographische Erzählung „Das Ende von Eddy“, im Original 2014 erschienen, ist in zwei Bücher sowie einen Epilog unterteilt. Die beiden Hauptteile bestehen jeweils aus kurzen Unterkapiteln. Jedes dieser – mit einer knappen, teilweise voraussagenden, teilweise beschreibenden Überschrift versehenen – Kapitel (etwa: „Das Gehabe”, „Porträt meiner Mutter am Morgen”, „Geschichten des Dorfes”) ist ein Ausschnitt aus dem Leben Eddys oder dem seiner Verwandten und Bekannten im Dorf: Ohne Übergang wird der Leser mit verschiedenen Puzzleteilen eines Gesamtbildes konfrontiert, wodurch der Leser aufgefordert wird, fehlende Verbindungen selbst herzustellen. Nicht zuletzt bleibt dem Leser ebenfalls, über das Verhältnis von Autobiographie und Fiktion in Louis’ Roman zu spekulieren, dessen Protagonist den selben Geburtsnamen trägt wie der Autor.

Die Konstruiertheit des Romans tritt besonders in der Gestaltung der beiden Bücher und des Epilogs hervor: Im ersten Buch „Picardie – (Ende der 1990er – Anfang der 2000er Jahre)“ geht es um das Leben in der Picardie, vornehmlich um dasjenige Eddys. Es werden die allgemeinen Umstände, Lebens- und Familiensituationen zur Kenntnis gebracht, das Schul- und Arbeitsleben wird beschrieben. Das zweite Buch ist schon deutlicher auf den Protagonisten fokussiert, was durch den Titel „Scheitern und Flucht“ unterstrichen wird. Mit dem Epilog ist man dann bei Édouard Louis in der Erzählgegenwart angekommen.

Die Geschichte setzt sich beim Lesen sukzessive zusammen, wobei man dank des abwechslungsreichen Schreibstils, bei dem oft Teilsätze weggelassen werden, die Seiten geradezu ‚verschlingt‘. Der Ich-Erzähler gibt die Geschichte während der ersten beiden Teile rückblickend wieder, bevor im Epilog im Präsens erzählt wird. Größtenteils herrscht dadurch eine erstaunliche Distanz zwischen Erzähler und Erzähltem, die vor dem inhaltlichen Hintergrund wie eine hinzugewonnene ‚Reife‘ wirkt. Gleichzeitig aber wird der Erzählbericht immer wieder sowohl von sprachlich sehr gelungenen Bildern als auch von längeren Passagen kursiv gesetzter wörtlicher Rede unterbrochen, die eine extreme Nähe suggerieren und dank des umgangssprachlichen Tons auf eine bemerkenswerte Art die jeweilige Atmosphäre vermitteln. Dieser Effekt ist es wohl auch, den der französische Literaturkritiker François Busnel meint, wenn er den Autor für sein Buch mit dem treffenden Satz lobt: „Il ne juge pas, il dit.“ Auch die Übersetzung Hinrich Schmidt-Henkels ist zu würdigen, die oft französische Wörter im Original stehen lässt und die deutsche Übersetzung nur hinzufügt, um einige schlicht nicht zu übersetzende Nuancen jugendlichen Sprechens und des Jargons nicht zu verlieren.

Bei seinem Erscheinen rief der Debütroman des 22-jährigen Édouard Louis, der heute in Paris Soziologie studiert, in Frankreich gleich verschiedenste Reaktionen hervor. So zum Beispiel wurde das Manuskript des im März 2014 mit dem Prix Pierre Guénin contre l’homophobie ausgezeichneten Romans von einem Verleger als zu karikaturistisch abgelehnt – und als Leser mag einen durchaus hier und da die etwas zugespitzte Skizzierung der Figuren und sozialen Klassen stören. Als Leser fragt man sich auch, ob die allgegenwärtige Brutalität und einige zutiefst sadistische Szenen, die der dementsprechend nicht leicht zu ,verdauende’ Text enthält, ihre Funktion unter Umständen nicht in abgeschwächter Form ebenso erfüllt hätten. Stark ist allerdings, wie unverblümt und deutlich hierdurch die Angst der Figuren zutage gefördert wird, die in einer selbsterhaltenden Abwehrreaktion eigene Neigungen ins Außen projizieren und dort bekämpfen. So erzeugen Eddys Peiniger beim Leser teilweise ebensoviel Mitgefühl wie der misshandelte Eddy selbst. Und darin liegt die ungeheure Stärke des Textes, der gleichzeitig die Normalität und das Absurde eines ganzen sozialen Systems aufzeigt: Natürlich schockiert Eddys erschreckend gefühlskalte Mutter, die sich zum Beispiel keineswegs daran stört, in dem verwahrlosten Haus, in dem die Familie auf engstem Raum wohnt, zu rauchen, obwohl sich die Asthmaanfälle ihres Kindes dadurch verschlimmern. Aber ebenso schmerzhaft wird deutlich, dass der Vater (eine bei weitem nicht ,eindimensionale’ Figur), der seinen Sohn einerseits demütigt und andererseits versucht, diesem – immer im gesellschaftlich anerkannten Machorahmen – seine Liebe zu zeigen, letztendlich ein ,armes Würstchen’ bleibt, ohne Vertrauen in sich oder die Mitmenschen, von Angst (vor dem Feindbild „Schwuler“ oder „Araber“) gezeichnet. Eddy erkennt das Paradox, dass sein Vater einerseits reichere oder studierte Menschen, also „die andere Seite“ hasst, andererseits jedoch vor Arbeitskollegen damit prahlt, wie intelligent der eigene Sohn sei, dass dieser einmal reich würde und es auf die andere Seite schaffen könnte. Immer wieder und in jeder neuen Situation versucht der Vater – im Grunde genau wie all die anderen Dorfbewohner, Eddy eingeschlossen – seinen Selbstwert zu erhöhen. Dass dadurch das Bild, das die Dörfler von sich vermitteln, inkohärent wird, ist ihnen auch nicht ansatzweise bewusst.

Der Epilog bringt eine Erlösung: Eddy beginnt, die Befreiung von alten Konzepten, alten Ängsten und der ihm aufgezwungenen Identität zu erleben. Ihm gelingt zuletzt der Befreiungsschlag, die Ablösung von seiner Herkunft, seiner eigenen Geschichte; im Epilog existiert jener Eddy Bellegueule schlicht nicht mehr. Der französische Originaltitel „En finir avec Eddy Bellegueule“ – deutsch etwa „Mit Eddy Bellegueule abgeschlossen” – bringt dies sehr viel deutlicher zum Ausdruck als die deutsche Übersetzung. Der Autor betont den Identitätswechsel des Protagonisten und die Sonderstellung des Epilogs durch linksbündigen Flattersatz, fehlende Interpunktion und eine gedichtähnliche Form. Dadurch hebt sich der Epilog sprachlich wie in seiner Gestaltung stark vom restlichen Teil des Textes ab und antwortet so auf den (französischen) Titel.

Einen bitteren Nachgeschmack hinterlässt die Lektüre dennoch: Wir leben heute bei weitem immer noch nicht in einer homophobiefreien Gesellschaft. In „Das Ende von Eddy“ kann man erleben, was es heißt, nicht frei leben zu können, und wozu es auch heute noch – auch in Europa – führen kann, wenn die Bedeutsamkeit von Bildung nicht wahrgenommen wird. Wer diese Erkenntnis aber aushält und wen das Mitfühlen und Mitdenken in alle Richtungen (nicht nur in die des gedemütigten Eddys) reizt, wer schließlich mit der Absurdität der Hierarchien und sozialen Zusammenhänge zwischen Menschen, sowie ihren Bemühungen um individuelle und kollektive Identität konfrontiert werden möchte, der sollte „Das Ende von Eddy“ unbedingt lesen.

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