Kringeland Hald, Ingeborg: Vielleicht dürfen wir bleiben
Hört die Angst nie auf?
von Dennis Görke (2015)
„Ob sie noch nach mir suchen?“ – Albin ist Meister im Verstecken. Er kann sich unsichtbar machen, wenn er muss. Seit einigen Jahren lebt er mit seiner Mutter und seinen Schwestern in Norwegen. Doch als das Telefon klingelt und Mama weint, weiß Albin, was zu tun ist: abhauen und zusehen, dass ihn niemand findet. Nur so, und da ist sich der Elfjährige sicher, kann er Mama und die Zwillinge vor der Abschiebung beschützen. Als er in einen Bus steigt, lernt er die Mädchen Amanda und Lisa kennen, die auf dem Weg zu ihren Großeltern sind, um mit ihnen in den Urlaub zu fahren. Kurzerhand beschließt Albin, sich im Auto der Großeltern zu verstecken, denn er hofft, dass sie nach Oslo fahren, einer „gute(n) Stadt, um unterzutauchen“.
Im Alter von sechs Jahren hatte Albin mit Mama und den Zwillingen schon einmal von zu Hause flüchten müssen. Sein Zuhause, das war Srebrenica. Aber dann kamen die Soldaten.
Die norwegische Autorin Ingeborg Kringeland Hald fokussiert mit ihrem Debütwerk „Vielleicht dürfen wir bleiben“ das Thema Flucht und Vertreibung, das auch zwanzig Jahre nach den Jugoslawienkriegen noch eine gesellschaftspolitische Brisanz besitzt, auch durch andere Bürgerkriege wie in Syrien oder dem Irak. Viele Kinder erleben heutzutage vergleichbaren Horror. Die Funktionsweise des Buches zeichnet sich durch eine parallele Montage von Gegenwart und Vergangenheit aus, die verdeutlicht, welchen Einfluss das erlebte Trauma auf die Gegenwart haben kann. Albin erzählt in zahlreichen Rückblenden aus seinem kindlichen Blickwinkel von den zerfetzten Leichen, die er gesehen, und von den Angehörigen, die er verloren hat. Aus den Informationen, die Albin liefert, kann man schließen, dass der Roman in seinen Rückblenden das Bosnien des Sommers 1995 schildert. Aus der lange belagerten Stadt Srebrenica wurden damals Menschen unter unmenschlichen Umständen vertrieben oder deportiert. Das ‚Massaker von Srebrenica’, der jüngste Genozid in der Geschichte Europas, forderte abertausende Menschenleben. Noch lange danach in seiner neuen Heimat Norwegen leidet Albin unter dem Trauma. Auch wenn die Flucht längst Vergangenheit für ihn ist, beeinflusst sie sein Leben nach wie vor.
„Weit entfernt auf der Hauptstraße ist eine Staubwolke zu sehen. Papa bremst im Galopp ab. 'Hüaaa! Lauf weiter, mein Pferd', rufe ich. 'Warte kurz, Albin' sagt das Pferd.“ – Die zeitlich früheste Rückblende zeigt Albin als Kleinkind. Er spielt mit seinem Vater „Pferdchen“, und in der Ferne sieht man noch die Staubwolken der sich entfernenden Militärfahrzeuge. Die Mutter erwartet Zwillinge. Ein vermeintliches Familienglück, das sich vor bedrohlichem Hintergrund abspielt.
Der Ich-Erzähler Albin vermag eine emotionale Verbundenheit zwischen Leser und Erzähler zu erzeugen, er lässt den Leser sehr nah bei der Figur sein. Durch die zahlreichen – chronologisch nicht geordneten und daher assoziativ wirkenden –Rückblenden erfährt man mehr und mehr über das Innenleben Albins sowie seine Biografie und erlebt das Flüchtlingstrauma durch die Augen eines Kindes. Albin entkommt, aber flüchtet erneut, und er fragt sich, wann es endlich vorbei ist mit der Angst. Immer wieder spricht er von Verfolgung, Todesangst, Hunger und den allgegenwärtigen Tod: „Weit entfernt sind immer wieder Schüsse zu hören. Wir müssen so weit wie möglich vom Haus weg sein, wenn die Soldaten zurückkommen und merken, dass wir nicht mehr dort sind. Vielleicht sind sie ja schon wieder zurück. Vielleicht haben sie die Jagd schon aufgenommen.“ Albin hat ein „Knäuel“ im Bauch – er hat oft panische Angst. Besonders in Momenten, in denen er zunächst Ruhe zu finden scheint, wie in der Hütte im norwegischen Wald, kommen die alten Erinnerungen wieder hoch.
Hald versucht eine Antwort auf das kindliche Wissensbegehren zu finden. Warum müssen Menschen aus ihrer Heimat fliehen? Warum können sie nicht zurück nach Hause? Die altersadäquate Sprache, gekennzeichnet durch kurze Sätze ohne schwierige Wörter, trägt zur Beantwortung dieser Fragen bei und ermöglicht dem kindlichen Leser die Übernahme von Albins Perspektive. Die kursive Markierung der Rückblenden verdeutlicht den Wechsel in vergangene Ereignisse und erleichtert so das Lesen.
Zuweilen erscheint es recht verwegen, dass sich der Elfjährige auf eigene Faust durch die Wälder Norwegens ‚kämpft’ und in einer einsamen Holzhütte Zuflucht findet. Doch Albins Gegenwart ist von Angst geprägt, und was abenteuerlich anmuten könnte, ist in Wahrheit die verzweifelte Suche nach Schutz und Halt. In Amanda, Lisa und deren Großeltern sucht Albin eine funktionsfähige Ersatzfamile, an der er heimlich teilhaben möchte. Wie ein scheues Reh schleicht er hinter ihnen her, unentdeckt, immer bereit, das Weite zu suchen. Der Großvater, der vielleicht sogar eine Vaterfigur darstellt, spielt bei Albins Beobachtungen eine besondere Rolle. Als die Familie das „Stiefeltier“ dann doch entdeckt – der Junge hat mit seinen Schuhen verdächtige Fußspuren hinterlassen –, wirkt Albin wie erstarrt und weiß nicht, ob er den Leuten vertrauen kann. Schließlich war damals ein anderer Junge vor seinen Augen erschossen worden, nur weil der um Essen gebettelt hatte.
Durch die Unterhaltung mit Amanda und Lisa erfährt man, wie Albin von anderen gesehen wird. Er, der Junge mit blonden Haaren, der wie einer aus der Stadt spricht, verwirrt die beiden sehr, als er beteuert, dass er Moslem sei und aus Bosnien komme. Für sie sieht Albin nämlich wie ein norwegischer Junge aus. Dass Norwegen im Zuge der Jugoslawienkriege viele bosnische Flüchtlinge aufnahm und sich an den Untersuchungen der Kriegsverbrechen in Bosnien und Herzegowina beteiligt, unterstreicht die Authentizität des Romans. Hiermit verbunden spielt die Wichtigkeit der Akzeptanz von Flüchtlingen eine Rolle, die dem Leser durch die Schilderung der traumatischen Erlebnisse verdeutlicht wird. Das Ende birgt noch Hoffnung, denn der Ausweisungsbescheid „wurde möglicherweise auf Grund falscher Voraussetzungen erteilt.“ Dennoch bleibt die Unsicherheit, die der Duldungsstatus von Flüchtlingen mit sich bringt.
„Vielleicht dürfen wir bleiben“ ist ein unter die Haut gehendes Buch, in dem Empathie einen hohen Stellenwert hat. Das macht es so wertvoll in Zeiten von Flüchtlingsdebatten und Rechtspopulismus.