Becker, Aaron: Die Reise
Eine traumhafte Welt
von Kimberly Persel (2015)
Die Geschichte beginnt mitten am Tag im Leben eines braunhaarigen kleinen Mädchens, das sich fürchterlich langweilt. Es sitzt alleine auf den Stufen vor einem Haus mitten in New York, neben ihm lehnt ein knallroter Roller. Keiner scheint die Kleine wahrzunehmen, weder die anderen spielenden Kinder, noch ihre Familie, die sich im Haus beschäftigt, wie man durch einen Längsschnitt des Hauses erkennen kann. Das Rot der Ampel und des Rollers betont noch die Tristesse und Eintönigkeit der in grau-braunen Tönen gehaltenen Szenerie. Nur eine lilafarbene Kreide in der Hand eines Jungen links im Bild und ein ebenfalls lilafarbener Vogel hoch oben am Himmel setzen einen zusätzlichen Farbakzent. Doch misst man dieser Farbe noch keine große Bedeutung zu.
Die darauf folgende Seite zeigt das Mädchen zu Hause bei seiner Familie: Die Mutter steht kochend in der Küche und telefoniert. Der Vater ist am Computer beschäftigt, und die Schwester sitzt mit ihrem Tablet auf dem Sofa. Keiner von ihnen nimmt das Mädchen wahr. Auch die Darstellung unterstützt die passive Haltung der Familie: Die drei Szenen sind untereinander angeordnet und zeigen auf weißem Grund nur die jeweiligen Personen und wichtige Elemente des Raumes, nicht aber seine Tiefe. Auch werden erneut rote Gegenstände in den Vordergrund gestellt: In der Küche steht der bereits bekannte rote Roller, im Büro des Vaters schleift das Mädchen einen roten Flugdrachen hinter sich her, und im letzten Bild lehnt es sich mit einem roten Ball in den Händen auf die Rückenlehne der Couch. Es scheint, als würden alle Familienmitglieder in einer digitalen Welt versinken. Nur das Mädchen erhofft sich, mit seinen roten Spielsachen aktiv werden zu können.
Aaron Becker entwirft in seinem Bilderbuch „Die Reise“ eine phantastische Geschichte, die ausschließlich durch die Bilder erzählt und gelebt wird. Seine Aquarelle sind sehr detailliert und aufwendig, immer wieder entdeckt man etwas Neues.
Der phantastischen Geschichte vorgeschaltet ist die Darstellung der Befindlichkeit des Mädchens. Auf dem dritten Bild sitzt das Mädchen alleine in seinem Zimmer auf dem Bett. Trotz fehlender Worte spricht die Körperhaltung für dessen Gemütszustand: Die Arme sind verschränkt, die Beine zum Körper gezogen, der Kopf ist nach unten geneigt. Passiver könnte das Mädchen nicht wirken, doch geben Gegenstände in seinem Zimmer – ein als Lampenschirm dienender Miniatur-Heißluftballon, eine Weltkarte, die mit Segelschiffen bedruckte Bettwäsche und eine Kinderzeichnung mit Pyramiden – Auskunft über seine inneren Wünsche und Träume. Der Betrachter erhält auch hier durch einen Längsschnitt Einsicht in das Zimmer. Dessen Boden, Decke und Seitenwände wirken wie ein Rahmen, der das nach dem Goldenen Schnitt auf die Seite platzierte Zimmerbild umgibt. Die eintönige Farbgebung, die Rahmung sowie die geometrische Konstruktion schaffen Distanz zwischen dem Betrachter und dem Mädchen.
Erst auf dem nächsten Bild kommt Bewegung in die Szene: Als die zuvor in der Ecke schlafende Katze das Zimmer durch die offene Zimmertür verlässt, kommt eine rotleuchtende Kreide zum Vorschein. Diese schnappt sich das Mädchen kurzerhand, zeichnet eine Tür auf die freie Wand und verschwindet durch diese hindurch.
Jenseits der Wand erstreckt sich ein wunderschöner Wald: Überall in den Bäumen hängen blaue Lampions, und in der Ferne erkennt man einen kleinen Steg am Fluss. Dort angekommen, zeichnet sich das Mädchen mit der roten Kreide ein kleines Boot aufs Wasser und lässt sich flussabwärts treiben. Und so beginnt das Abenteuer in einer fremden Welt: Der Fluss endet in einer verwinkelten, mit goldenen Kuppeln gekrönten Stadt, welche eher an eine riesengroße Burg erinnert und die statt von Straßen von Kanälen durchzogen wird. Wenig später entdeckt das Mädchen in seinem roten Heißluftballon, den es sich mit seiner Zauberkreide selbst erschaffen hat, seltsame Flugobjekte bei einer Verfolgungsjagd. In Uniform gekleidete Männer versuchen, einen sehr schönen, lilafarbenen Vogel zu fangen, was ihnen letztendlich auch gelingt.
Bunte, aber vor allem goldene Akzente geben der Welt hinter der roten Tür etwas Magisches, wodurch sich die neue Welt deutlich von dem zuvor gezeigten tristen Alltag absetzt. Sie erstrahlt in vielerlei Hinsicht im Ambiente von „Tausendundeiner Nacht“. Die Stadt ist in doppelseitigen Totalen eingefangen, und die Bilder haben keine Umrandung, wodurch die dargestellte Welt einerseits grenzenlos erscheint, andererseits den Betrachter direkt anzieht. Solche Bilder kontrastieren mit eher sparsam angelegten Seiten, die das Mädchen, wenn es mit der roten Kreide zeichnet, in einer jeweils dreiteiligen Sequenz auf einer weißen Grundfläche zeigen. Während des Zeichnens kann der Betrachter lediglich Umrisse des neuen Gegenstandes erahnen, welcher dem Mädchen auf der darauffolgenden Seite als neues Fortbewegungsmittel dienen wird.
Um den armen Vogel zu befreien, begibt sich das Mädchen auf das größte aller Flugobjekte, denn dort wird der Vogel von Soldaten in einem goldenen Käfig in einem pagodenartigen Aufbau gefangen gehalten. Seine Schaureise schlägt somit in eine Abenteuerreise um, und es lässt ein weiteres Mal seine recht passive Haltung hinter sich. Bei der Befreiungsaktion kann der Vogel zwar entkommen, jedoch wird nun das Mädchen gefangen und in einen vom Flugobjekt herabgelassenen Käfig eingesperrt. Ohne die Zauberkreide, welche bei der Befreiung des Vogels abhanden gekommen ist, scheint das Mädchen in dieser Situation verloren zu sein. Doch der lilafarbene Vogel kommt der Reisenden zur Rettung und bringt ihr die rote Kreide zurück. Auf einem roten Teppich fliegt sie davon, über eine orientalische Stadt hinweg und bis zu einer einsamen Palme, zu der sie der Vogel führt. Im Stamm der Palme befindet sich eine Tür, welche den selben Farbton wie der Vogel aufweist. Durch diese hindurch gelangt das Mädchen zurück auf die Straße vor seinem Haus, und der Junge mit der lilafarbenen Kreide aus dem ersten Bild der Geschichte läuft dem Vogel freudestrahlend entgegen. Denn auch seine Kreide hat Zauberkräfte, mit der er in eine fremde Welt eintauchen kann. Zusammen zeichnen sich das Mädchen und der Junge ein rot-lilafarbenes Fahrrad, mit dem sie davonfahren. Somit hat das Mädchen nicht nur eine wundervolle Welt kennengelernt, sondern am Ende den langersehnten Spielgefährten getroffen.
Das Ende spannt so den Bogen zur Eingangsszene. Der Betrachter erkennt jetzt die Bedeutung der vorausdeutenden lilafarbenen Signale und vermerkt, dass die Ampel auf der Straße nun auf Grün gesprungen ist. Das ist nicht nur die Farbe der Hoffnung, sondern zeigt zugleich an, dass das anfangs antriebslose Mädchen zur Aktivität erwacht ist. Damit korrespondiert, dass seine Reise nicht – wie sonst meist in der phantastischen Literatur üblich – an den Ausgangspunkt zurückführt, hier: das Zimmer mit der selbst gezeichneten Tür, sondern dass das Mädchen und der Junge offenbar einem neuen Abenteuer entgegenradeln.
Aaron Becker hat mit seinem Buch ein phantastisches Bildermärchen geschaffen, welches zum Träumen und Phantasieren anregt und einem den doch meist eintönigen Alltag versüßt. Der Titel „Die Reise“ hätte für diese Geschichte nicht besser gewählt werden können, da dieser schlicht und einfach ist, aber dennoch offen und vorwegnehmend zugleich. Inspiration fand Becker vermutlich in Crockett Johnsons Bilderbuch „Harold and the Purple Crayon“ (1955; deutsch: „Harald und die Zauberkreide“), denn der neue Spielgefährte zeichnet genauso wie der kleine Harold mit einer lilafarbenen Kreide Gegenstände, die zum Leben erwachen.
Beckers in den USA bereits 2013 auf den Markt gebrachtes Bilderbuch bildet den ersten Teil einer Trilogie, deren zweiter Teil – er trägt den vorausdeutenden Titel „The Quest“ (deutsch: die Suche, die Suchmission) – bereits im Originalverlag erschienen ist. Man darf schon jetzt gespannt sein, welche Abenteuer die beiden Kinder im zweiten Band erleben werden.