Fretheim, Tor: Die Stille nach Nina Simone
„Solche Dinge passieren anderswo“
von Lena Viefhues (2015)
Eine scheinbar ganz normale Familie in einer normalen Nachbarschaft mit normalen Berufen und einem normalen Sohn. Was jedoch passiert im verschlossenen Elternschlafzimmer, wenn die Musik so laut aufgedreht wird? Warum weicht der Vater all den Fragen aus? Und warum verschwindet die Mutter so plötzlich?
Der 18-jährige Simon blickt auf seiner Zugreise nach Nordnorwegen auf das Geschehene zurück und möchte sich dabei in einem Brief an die US-amerikanische Jazzsängerin Nina Simone wenden, deren Lieder im Haus stets lautstark übertönt haben, was nicht gehört werden durfte. Sie ertönte viel zu lange, zu laut, zu oft.
„Sie“, das Opfer der Gewalt, ist lange für ihren Sohn, und so auch für den Leser, nicht greifbar. Nach und nach erkennt Simon mehrere Gesichter seiner Mutter. Zum einen ist sie die ‚Frau am Herd‘, die nicht mit zu Ausflügen kommen darf und ihrem Mann unterlegen zu sein scheint. Zum anderen kann sie auch die „Ausgehmama“ sein, die ihre blauen Flecken hinter Kleidern, Schminke und einem aufgesetzten Lachen versteckt und in die ‚Welt des Kaufrausches‘ abtaucht. Auf der Suche nach seiner Mutter erfährt Simon jedoch noch von einer dritten, ihm unbekannten Seite: seine Mutter als geheimnisvolles, talentiertes Mitglied im Chor, das nach den Treffen noch mit einem anderen Chormitglied Wein trinken geht.
„Er“, der Täter, wirkt auf den Leser zunächst sympathisch und vertrauenserweckend. Er besitze offenbar ein auffällig freundliches Lächeln und würde alles für seinen Sohn tun. Dazu genießt er das unbekümmerte und einfache Leben in der freien Natur und verehrt seine alten Schallplatten von Nina Simone. Jedoch verheimlicht er Simon offensichtlich etwas und weicht seinen Fragen geschickt aus.
Simon, der Protagonist und Ich-Erzähler des Romans, ist ein einsamer, verzweifelter junger Mann, der den Leser an den Erinnerungen aus seiner Kindheit teilhaben lässt. Als Adoleszenter lebt er auf einer Grenze seiner Entwicklung. Er begibt sich auf die Suche nach Antworten auf seine vielen Fragen, wobei er sich nicht sicher ist, diese wirklich wissen zu wollen. Schließlich, so sein Vater, verliere man beim Schauen in die Welt der Erwachsenen die Unschuld. Als Nina Simones Stimme plötzlich verstummt und kurze Zeit später seine Mutter ausgerechnet an dem Ort tot aufgefunden wird, an dem Simon und sein Vater ihren letzten gemeinsamen Wochenendausflug verbracht haben, kann Simon seine Erkenntnis nicht mehr länger verdrängen.
Im Strom seiner Gedanken werden Erinnerungen an Wochenendausflüge mit dem Vater, den wunderschönen Gesang der Mutter und die Fürsorge des Vaters für eine kranke Möwe zu Tage gefördert, was den Anschein einer vermeintlich normalen Familie verstärkt. Im weiteren Verlauf jedoch erinnert sich Simon auch an die schattigen Momente, wie etwa die überschminkten Verletzungen der Mutter oder ihr mysteriöses Verschwinden nach dem Chorausflug. Diese Erlebnisse reflektiert Simon aus zeitlicher Distanz und fragt sich immer wieder, ob er etwas hätte anders machen müssen. Am Schluss wagt er den Schritt, und der Zug, in dem er während der Erzählung sitzt, fährt ihn zu dem Ort, an dem sein Vater inhaftiert ist. Seine erlebte Geschichte schreibt er aber doch nicht nieder, und so bleibt sie zunächst nur als unbeschreibliche Erinnerung in seinem Kopf. Simon möchte verstehen, was in seiner Familie vorgefallen ist, kann es aber noch nicht vollständig: Deshalb schafft er es auch nicht, seine Gedanken in Worte zu fassen, den Brief an Nina Simone zu schreiben. Dies wird ebenfalls durch die typographische Abhebung der getippten Anrede zum Rest der Erzählung deutlich – mehr als die Anrede „Liebe Nina Simone“ bringt Simon nicht zustande.
Nach und nach bekommt der Leser durch Simons Retroperspektive tiefgreifende Einblicke hinter die Fassade der Familie, und Simons Emotionen der Angst und Verzweiflung untermalen die unvorstellbare Familientragödie. Gerade weil Simon keinen einzigen Namen nennt, und er sich selbst oft als „Sohn (18)“ beschreibt, geht einem die Geschichte bis unter die Haut. Die Aussage, dass jeder und jedem dieses Schicksal begegnen kann, hängt über dem Leser wie eine schwarze Gewitterwolke.
Tor Fretheim gelingt mit „Die Stille nach Nina Simone“ eine sensible Behandlung des Tabuthemas häusliche Gewalt. Sowohl die räumliche Verortung innerhalb der Handlung (Nordnorwegen) als auch die Tatsache, dass die Erzählung aus dem Norwegischen, gelungen übersetzt von Maike Dörries, stammt, scheinen die doch spürbare emotionale Kälte und die Distanziertheit erklärbar zu machen. Durch den kurzen, prägnanten und sehr präzisen Schreibstil erzeugt Fretheim Eindringlichkeit und Brisanz. Besonders die augenscheinlich bewusst gesetzten Zeilenumbrüche: „Sie schubsten mich gegen die Wand.// Es tat nicht weh.// Nicht körperlich.“ und metaphorische Elemente springen des Öfteren ins Auge: „Draußen hat es zu regnen begonnen. Ich habe Regen schon immer gemocht. Hatte nie was dagegen, wenn er mir ins Gesicht peitschte. Im Gegenteil, ich fand das schön. Erfrischend und wohltuend. Die Regentropfen an der Scheibe waren Tränen. Ich drehte mich weg.“ Dies führt in einigen Passagen zu Gänsehautmomenten des Lesers und ständig kommt die Frage auf „Warum hast du das getan?“.