McCormick, Patricia: Der Tiger in meinem Herzen
„Wenn Du was fühlst, wirst Du verrückt“
von Dennis Görke (2015)
Es ist ein warmer Frühlingsabend in Battambang, West-Kambodscha, im Jahr 1975. Von überallher tönt Musik, die Menschen tanzen, Kinder lassen Drachen steigen, die Straßen sind belebt. Was wie das romantische Abendtreiben in einer südostasiatischen Stadt beschrieben wird, findet einen abrupten Abbruch durch das Pfeifen und das gleißende Licht eines heranrollenden Bombenangriffs im Dschungel, nicht weit von der Stadt. Bereits am nächsten Tag ist wieder alles ruhig: eine Situation, die für Arn normal zu sein scheint.
Arn Chorn ist elf Jahre alt, als sich die Welt, die er bis dahin gekannt hat, von einem auf den anderen Tag vollkommen verändert: Die Roten Khmer haben den Krieg gegen die von den US-Amerikanern unterstützten Truppen Lon Nols gewonnen. Gerade noch hat Arn mit einem Freund am Brunnen gespielt, und wenig später befindet sich die ganze Stadt auf der Flucht vor dem angeblich herannahenden Feind. In einem einem Todesmarsch gleichenden Strom wandern Hunderttausende landeinwärts. Arn muss mit ansehen, wie Menschen zu Tode getrampelt und zurückgelassen werden. Tote Säuglinge liegen reglos am Straßenrand: „An einem einzigen Tag kann ein Mensch sich daran gewöhnen, Leichen zu sehen.“
In Patricia McCormicks Roman „Der Tiger in meinem Herzen“ wird die Lebensgeschichte eines Kambodschaners erzählt, der seiner Kindheit beraubt wurde. Eine Geschichte, die von Kinderarbeit, Versklavung und Genozid handelt. Doch es ist keine erdachte Fiktion, denn Arn gibt es wirklich. Als Kind erlebte er den Terror der Roten Khmer, unter deren Schreckensherrschaft mehr als zwei Millionen Menschen ermordet wurden.
Weit von der Stadt entfernt teilen die Roten Khmer die Stadtbewohner nach und nach auf Gegenden auf, in denen die Menschen sich niederlassen, Arbeitslager errichten und Reis anbauen oder Land für den Reisanbau kultivieren sollen. Von einem auf den anderen Moment sind die Menschen gefangen und werden von einer unberechenbaren Horde sadistischer, gefühlloser Soldaten wie Vieh behandelt.
Die Roten Khmer zerstören fortlaufend jede Form von Individualität. Familien werden auseinandergerissen, niemand darf mehr auch nur das geringste Eigentum besitzen. Auch das kleinste Erinnerungsstück kann den Tod bedeuten, ebenso jedes Ding, das auf eine intellektuelle oder sonst wie privilegierte Vergangenheit hindeutet, zum Beispiel eine Brille. Angst und Willkür zerstören die Menschen innerlich und äußerlich: „Jeden Tag lassen die Roten Khmer Menschen verschwinden. Meine Schwester verschwindet jeden Tag ein bisschen.“ Arn erzählt fortlaufend und nüchtern vom Massenmord, den die Roten Khmer an der Bevölkerung begehen: Ein entferntes Knacken, das aus Richtung eines Mangohains in steigender Regelmäßigkeit ertönt, entpuppt sich als das Geräusch, das beim Spalten eines Schädels entsteht. Die Roten Khmer töten jeden, der nicht im Sinne der mysteriösen Angka handelt. (Hinter der „Angka“ – genauer „Angka padevat“ oder „Revolutionäre Organisation“ –, einer im Roman als übermächtig beschriebenen Instanz, verbarg sich in Wahrheit die Kommunistische Partei, deren Plan vorsah, „Kampuchea“ in kürzester Zeit in einen kommunistischen Agrarstaat zu verwandeln, in dem die gesamte Bevölkerung als Landarbeiter Reis anbauen sollte.) Der Alltag im Arbeitslager besteht aus zermürbender Arbeit, die regelmäßig zum Tod von Menschen führt. Arn muss mit ansehen, wie die Menschen um ihn herum sterben, tagaus, tagein.
Was den Leser am meisten schockieren dürfte, ist die Gewöhnlichkeit, die Tod und Massenmord für Arn im Laufe der Geschichte erlangen. Die unbeschreiblichen Ausmaße des Genozids sind nicht in Worte zu fassen, und doch wird hier aus der Sicht eines Kindes erzählt, wie Tag für Tag Menschen umgebracht werden, nur weil sie in ihrer Vergangenheit hätten reich oder privilegiert gewesen sein können. Das Grauen nimmt für Arn nach und nach derart alltägliche Züge an, dass es zu einer Monotonie verschwimmt: Arn schaltet seine Emotionen ab. Ebendiese Monotonie des unerträglichen Lageralltags und die Sinnlosigkeit, die Arn empfindet, hat McCormick aufgegriffen und ins Schriftliche eingebracht, was im Leseprozess eine gewisse Schmerzhaftigkeit und offenbar gewollte Eintönigkeit vermittelt.
Das Einzige, das Arn anfangs noch Halt gibt, sind die Erinnerungen an seine Familie. Diese Erinnerungen versteckt er bildhaft hinter einer „Tür“ in seinem Kopf, zu der nur er Zugang hat. Und selbst mit seinen Gedanken muss er vorsichtig sein, denn die Roten Khmer, so meint der Junge, können einem in den Kopf gucken. Aber nach und nach verblassen seine Erinnerungen, und Arn resigniert irgendwann gedanklich: „Aber jetzt sehe ich, dass die Roten Khmer gewonnen haben. Sie haben meine Familie in meinen Gedanken getötet.“ Das zu Beginn so clevere und phantasievolle Kind, das beim Glücksspielen in der Stadt die Taxifahrer um ihr Geld gebracht hat, passt sich nach und nach total an, um zu überleben. Aus Arn wird allmählich ein gefühlloser Junge, der Schutz darin findet, besser als andere zu sein.
Arn sieht seine einzige Chance auf ein längeres Überleben, indem er sich zu einer Musikgruppe meldet, die Propagandalieder für die Roten Khmer spielen soll. Diese Entscheidung rettet ihm das Leben. Da der Junge aufgrund seiner Herkunft aus einer Künstlerfamilie – was die Roten Khmer nicht wissen – ein Talent für Musik zu besitzen scheint, lernt er schnell, das neue Instrument zu spielen, die traditionelle Khim, eine Art Kastenzither. Nachdem der alte Musiklehrer umgebracht worden ist, findet Arn in dem neuen Musiklehrer Mek eine Vertrauensperson. Immer häufiger muss die Musikgruppe den ganzen Tag lang laut spielen, mit einem einzigen Zweck: „Die Roten Khmer lassen uns spielen, damit niemand das Töten hören kann.“ Doch die Roten Khmer schätzen die revolutionäre Musik auch, was Arn irgendwann merkt. Er kann sich aufgrund seiner Führungsfunktion in der Musikgruppe nach und nach Freiheiten einräumen, für die er nicht bestraft wird: Er stiehlt Reis für hungernde Kinder, bekommt für Gefälligkeiten Zuckerwürfel von der Gefährtin des Lagerleiters geschenkt und wird von einem stets böse blickenden Soldaten namens Sombo oft in Schutz genommen. (Dass Musik in verschiedenen Funktionen – als freudespendende Unterhaltung zu Beginn des Romans, als revolutionäres Propagandainstrument, als Massenmord übertönende Tonkulisse, als ablenkende wie lebensrettende Beschäftigung, als Mittel nationalkultureller Selbstvergewisserung – eine enorme Bedeutung für Arn Chorn hat, wird an dem Stellenwert deutlich, den Musik im Roman einnimmt, aber auch an Arns weiterem Lebensweg und seiner Mitbegründung der NGO „Cambodian living arts“. So sagt Arn selbst über sich: „Music saved my life.“)
Die Situation verändert sich erneut schlagartig, als – das Datum 1979 bleibt unerwähnt – vietnamesische Truppen in Kambodscha einfallen. Das Lager wird aufgelöst, viele Menschen fliehen. Die Kinder, die nicht fliehen, werden als Kindersoldaten rekrutiert: „Jedes Kind bekommt ein Gewehr. […] Ein kleiner Junge schaut in den Lauf und peng! schießt sich in den Kopf.“ Das Gewehr in der Hand macht Arn nun selbst zu einem Soldaten der Roten Khmer. Er wird einer Aufklärungsgruppe zugeteilt, den „kleinen Fischen mit großem Stachel“, die, wie Arn irgendwann feststellt, als Kanonenfutter dienen sollen. Als Arn zum ersten Mal in einem richtigen Gefecht schießen muss, fühlt er sich wie „elektrisiert“. Doch nachdem sich die Kampfhandlungen zuspitzen und mehr und mehr Kinder sterben, beschließt er zu fliehen.
Orientierungslos schlägt Arn sich durch den dunklen Dschungel. Seine Flucht führt ihn schlussendlich nach Thailand, wo er völlig entkräftet in einem Auffanglager für Flüchtlinge landet. Dort macht er den Amerikaner Peter Pond auf sich aufmerksam, der, sich über die Lagerregeln hinwegsetzend, Arn und zwei weitere Kinder adoptiert, wodurch Arn zu seinem zweiten Nachnamen kommt. Sehr kurz und schlaglichtartig im Vergleich zur vorangegangenen Geschichte wird erzählt, wie Peter Pond die Kinder mit in die USA nimmt, wo sie zur Schule gehen können. Doch es dauert lange, bis Arn sich in die amerikanischen Verhältnisse eingewöhnen und über seine Vergangenheit sprechen kann.
Die Autorin Patricia McCormick, u. a. ausgezeichnet mit dem Gustav-Heinemann-Friedenspreis 2009 für ihren Roman „Verkauft“, stützte sich auf die Erinnerungen des heute neunundvierzigjährigen Arn Chorn Pond. Sie betrieb eine umfangreiche biografische Recherche, interviewte Arn über zwei Jahre lang, ebenso andere Überlebende des Terrors, wie Mek und Sombo. Selbst von einer Reise nach Kambodscha, in entlegene Regionen, in denen die Roten Khmer noch heute herrschen, schreckte sie nicht zurück. Durch diese Hingabe ist ein Buch entstanden, das überwältigend wirkt und sprachlos machen kann.
Das Verhältnis von Realität und Fiktion erschließt sich im Roman nicht immer, und die Wahrheit sei, so schreibt die Autorin, „zwischen den Zeilen“ zu suchen. Auf der einen Seite trägt die chronologische Roman-Erzählung zur Kohärenz der Geschichte bei, und das gegenwärtige Erzählen erzeugt eine dramaturgische Nähe zwischen dem Erzähler und dem Leser, zieht diesen mit ins Geschehen. Auf der anderen Seite spiegelt die episodenhafte Erzählweise die fragmentartigen Erinnerungen Arns wider. Mit Sicherheit kann man sagen, dass auch eine Biografie des Protagonisten die schrecklichen Erlebnisse hätte wiedergeben können, aber die Ich-Erzählung in Romanform tut dies auf eine viel ergreifendere Art und Weise. Hierbei ist die Erzählerstimme des jungen Arn von großer Bedeutung, denn sie vermittelt die kindliche Sichtweise der Erzählerfigur durch kurze Sätze und eine stellenweise kindliche Naivität, die immer wieder von brutaler Realität eingeholt wird.
Aus Arns Schilderungen gehen zwar keine genauen Datierungen hervor, aber immer wieder gibt es Beschreibungen, die historische Informationen enthalten, so z. B. über die – Folge einer gänzlich voluntaristischen Wirtschaftspolitik – trotz Neukultivierung zahlreicher Anbauflächen und Vervielfachung der Setzperioden immer schlechter werdende Reisernte, aufgrund derer sich die Roten Khmer dazu veranlasst sahen, die Arbeitszeiten bis ins äußerste Extrem auszuweiten – ohne Erfolg. Arn hört heimlich Radio und erfährt, dass die vietnamesischen Soldaten gegen die Roten Khmer an der Grenze kämpfen. Durch wenige Sätze wird die ganze Bandbreite des Terrors und der Unfähigkeit des Systems deutlich: „Hier verhungern die Kinder. Hier sehen selbst die Reispflanzen krank aus. Der Boden ist müde vom Pflanzen und Pflanzen und Pflanzen ohne Pause. Wie die Kinder. Krank vom Arbeiten und Arbeiten und Arbeiten ohne Pause.“ Die Informationen werden zwar bruchstückhaft und unverbunden in Arns häufig naiver Weltsicht vermittelt, verdichten sich jedoch nach und nach zu einem Netz, das nahezu alle heute bekannten Aspekte dieser mörderischen Episode der neueren kambodschanischen Geschichte zur Kenntnis bringt.
Der eigentliche Text wird von zahlreichen weiteren Texten umgeben: Neben der Geschichte findet man noch Informationen zur Autorin und zu Arn Chorn Pond, ein Vorwort, einen Epilog, ein Nachwort der Autorin und eine Danksagung Arns vor, die die Authentizität der biografischen Informationen unterstreichen. Leider hat es der Verlag für sinnvoll befunden, dem Roman einen deutschen Titel zu geben, der eigentlich nur den späteren Arn der vergleichsweise kurz dargestellten Zeit in der neuen amerikanischen Heimat bildlich charakterisiert. Der Originaltitel „Never Fall Down“ nimmt dagegen die Überlebensstrategie des Protagonisten sehr treffsicher in den Blick.
Wer dieses Buch (Übersetzung: Maren Illinger) liest, bekommt eine ziemlich genaue Vorstellung davon vermittelt, was man unter dem Begriff der „killing fields“ versteht. Durch die schonungslose Brutalität, die diese Geschichte mit sich bringt, ist das Buch erst für Jugendliche ab vierzehn Jahren geeignet. In dem Roman wird gezeigt, wie schnell das zivilisatorische Kostüm, das eine Gesellschaft trägt und das grundlegende Werte von Menschlichkeit repräsentiert, zerreißen kann. „Der Tiger in meinem Herzen“ sollte daher als Appell an die Menschlichkeit verstanden werden. Eine klare Leseempfehlung wird ausgesprochen.