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Titelbild
Åsa Lind:
Ellika Tomson und ihre Entdeckungen im blauen Haus
Aus dem Schwedischen von Birgitta Kicherer
Mit Bildern von Philip Waechter
Weinheim u. a.: Beltz & Gelberg 2011
132 Seiten
€ 12,95
Ab 9 Jahren
Illustriertes Kinderbuch

Lind, Åsa (Text) und Philip Waechter (Illustration): Ellika Tomson und ihre Entdeckungen im blauen Haus

Entdeckungsreisen für Anfänger

von Sandra Giebel (2011)

Man muss nicht wie Christoph Kolumbus über das Meer reisen, um ein Entdecker sein zu können. Diese Erfahrung macht Ellika Tomson, als sie eines Freitagnachmittags beginnt, ihre eigene kleine Entdeckungsreise anzugehen.

Die Idee dafür bekommt sie von Karlsson, den sie auf ihrem Heimweg von der Schule trifft und von ihrer Aufgabe erzählt, einen zweiseitigen Aufsatz über Kolumbus schreiben zu müssen. Der immer hilfsbereite Nachbar jedoch ist davon überzeugt, dass ein Bericht über Ellikas eigene Erkundungen viel interessanter wäre als ein Aufsatz über „diesen Typen, der es nicht geschafft hat Indien zu finden“. Er schenkt ihr ein kleines Notizbuch, das er gefunden hat, und gibt ihr den Anreiz dazu, darin alles zu notieren, was sie in ihrem Wohnhaus, welches das „blaue Haus“ genannt wird, entdeckt.

Somit beginnt für Ellika eine Entdeckungsreise durch alle möglichen Stockwerke ihres Hochhauses, bei der sie in kürzester Zeit jede Menge neuer Sachen ermittelt und Veränderungen in ihrem Umfeld erkennt. So verschlechtert sich plötzlich die Freundschaft zu ihrem langjährigen Freund Janus, während sich im Gegenzug eine alte, verhasste Feindin als nicht ganz so schlimm entpuppt und sich sogar das Potential für eine Freundschaft zwischen ihnen entwickelt. In den verschiedenen Stockwerken gibt es immer wieder Neues zu erkunden. Sie trifft neue Nachbarn, erfährt etwas über die Fliegerleidenschaft einer alten verstorbenen Nachbarin, die sie jedoch kaum kannte, und hilft dem sehschwachen Herrn Svensson, die Urlaubskarte seiner Tochter zu lesen. Alles, was ihr dabei besonders auffällt, trägt sie dabei in ihr Entdeckerbuch ein.

Den Abschluss ihrer Entdeckerreise bildet ein Fest, das eine Nachbarsfamilie ausrichtet und bei dem sie noch einmal einen Großteil der Menschen, die ihr auf ihrer kleinen Reise begegnet sind, trifft. Am Ende hat sie so viele Eindrücke gesammelt, dass sie einen eigenen Bericht über ihre Entdeckungen als Aufsatz schreiben kann, um diesen anstelle des Kolumbusaufsatzes abzugeben.

Da fast jedes Kapitel in Åsa Linds Kinderroman „Ellika Tomson und ihre Entdeckungen im blauen Haus“ ein eigenes Entdeckerabenteuer beinhaltet, enden diese auch meist immer mit einem Eintrag in Ellikas Entdeckerbuch. Somit bilden Erlebnis und Notiz immer eine Einheit. Die Einträge behandeln immer das, was Ellika auffällt und worüber sie sich Gedanken macht. Häufig trägt sie zwischenmenschliche Beobachtungen ein, wie zum Beispiel, dass die beiden Tanten in ihrem Hochhaus beide Karlsson nett finden oder dass Herr K. gesprächiger ist, als die Mitbewohner vermuten würden. Die Einträge stellen eine Art Zusammenfassung ihrer jeweiligen Erlebnisse dar, mit ihrem ganz subjektiven Blick, der zeigt, dass es sich bei der kleinen Ellika eher um eine unzuverlässige Erzählerin handelt. Je mehr Ellika in ihr Entdeckerbuch schreibt, desto größeren Tagebuchcharakter bekommt es. Besonders deutlich wird dies, als ihr klar wird, dass sie niemand anderes in ihrem Entdeckerbuch lesen lassen will – weder die Lehrerin, noch ihre Mutter. Am Ende enthält es viel mehr Persönliches als ein normaler Entdeckerbericht.

Auch sprachlich setzen sich die Einträge vom Rest der Geschichte ab. So setzt Ellika Wörter und Geschehnisse so zusammen, dass es für jemanden, der dies nicht selbst erlebt hat, oft unverständlich wirken kann oder es passieren könnte, dass man einen neuen Sinn hineininterpretiert. Aber gerade durch diesen Umgang mit Sprache wirken manche ihrer Einträge fast tiefgründig oder sogar philosophisch. Dieses Potential erkennt auch Viljam Fridolin, der ‚coolste‘ Junge, den Ellika kennt und der von ihrer Schreiberei so begeistert ist, dass er ihre Texte in seine Songs einbauen will.

Über Ellika selber erfährt der Leser fast genauso wenig wie über die anderen Personen, die dem Mädchen auf seiner Entdeckungstour begegnen. Nur hin und wieder werden persönliche Details über sie auf indirektem Weg eingeführt, da sich die Sicht der Protagonistin eher auf ihr Umfeld bezieht als auf sich selber. So erfährt man zum Beispiel von dem Vater, der wegen Autodiebstahls im Gefängnis sitzt, erst im Laufe der Handlung.

Der Großteil der Geschichte spielt in dem „blauen Haus“ und nur wenige Szenen finden außerhalb statt. Dies hängt zum einen damit zusammen, dass sich Ellikas Entdeckerabenteuer allein auf die Gegebenheiten in ihrem Wohnhaus beziehen, es vermittelt aber gleichzeitig den Eindruck, dass Ellikas Welt sehr eingeschränkt ist und sich hauptsächlich nur auf dieses Haus bezieht. An der Anzahl ihrer Entdeckungen merkt man jedoch, dass sich trotz dieser räumlichen Eingrenzung ein großer sozialer Komplex darin befindet, der fast alles beinhaltet: Leute, die sie mag, sowie solche, mit denen sie nicht gut zurechtkommt, nette ältere Menschen ebenso wie ‚coole‘ Jugendliche.

Die einzelnen Protagonisten wirken glaubwürdig und ehrlich und als Leser kann man sich gut vorstellen, dass es tatsächlich irgendwo ein Haus mit solchen Leuten geben kann. Da es keinen großen Spannungsbogen innerhalb der Geschichte gibt, sondern jedes Kapitel meist ein eigenes kleines Abenteuer darstellt, kann das Buch, zu dem Philip Waechter die Illustrationen beigesteuert hat, auch gut kapitelweise vorgelesen werden.

Die Geschichte von Ellika Tomson ist ein ruhiges und recht einfühlsames Buch, das zeigt, wie viel man doch in seiner eigenen Umgebung im Alltag entdecken kann, wenn man nur aufmerksam genug aufpasst und genügend Neugierde mitbringt. Und so bewahrheitet sich denn am Ende des Buches auch Karlssons Versicherung, dass man keine große Reise zu unternehmen braucht, um innerhalb von zwei Tagen ein eigenes „Entdeckerbuch“ zu füllen.

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