Valentine, Jenny: Das zweite Leben des Cassiel Roadnight
„Wer bin ich?“
von Karina Lindemann (2011)
„Ich bin ein Niemand“ – Das ist das momentane Gefühlsleben des obdachlosen 16-jährigen Chap, als er nach seiner Herkunft gefragt wird. Seine Vergangenheit ist nämlich alles andere als rosig. Er weiß nicht, woher er kommt, er hat kein Zuhause und vor allem keine Familie – bis ihm ein Bild des vermissten Cassiel Roadnight gezeigt wird, der ihm zum Verwechseln ähnlich sieht. Der sehnsüchtige Wunsch nach Geborgenheit und einem eigenen Leben ist es, der Chap auf die Lüge und ein waghaftes Spiel mit der falschen Identität eingehen lässt. Es beginnt ein Balanceakt zwischen ständiger Angst, entdeckt zu werden, und dem Gefühl, endlich angekommen zu sein. Allerdings mit schwerwiegenden und ungeahnten Folgen ...
Jenny Valentine hat mit „Das zweite Leben des Cassiel Roadnight“ einen tiefgründigen und spannenden Thriller für jugendliche Leser geschaffen. Es ist nicht das erste Buch der hochgelobten britischen Erfolgsautorin: Schon des Öfteren hat sie sich an jugendliche Leser gerichtet und besticht immer wieder mit außergewöhnlichen Ideen. Ihr erster Roman „Wer ist Violet Park?“ wurde vielfach preisgekrönt und auch „Kaputte Suppe“ erhielt mehrere Auszeichnungen. Nun schafft es Valentine erneut, ihre Leser zu fesseln.
Die Entscheidung ist gefallen. Chap hat den Schritt gewagt und gibt sich als der mittlerweile 16-jährige Junge aus, der vor zwei Jahren bei dem Feuerwerksfest „Hay on Fire“ spurlos verschwunden ist. Doch was ist, wenn jemand bemerkt, dass er nicht Cassiel ist? Und noch viel schlimmer: Wie soll er damit umgehen, wenn die neu gewonnene Familie es merkt? Valentine gewährt dem Leser Einblicke in das schwankende Innenleben des Protagonisten, indem sie ihn seine Geschichte selbst erzählen lässt. Voll unverhoffter Freude und mit offenen Armen empfängt die Familie den verloren geglaubten Sohn. Die labile Mutter Helen, die aufgrund der vergangenen Schicksalsschläge tablettenabhängig worden ist, lässt sich ebenso blenden wie die ältere Tochter Edie. Beide scheinen dabei von ihrer Hoffnung auf ein Wiedersehen mit Cassiel angetrieben zu sein. Zwar bemerkt besonders Cassiels verantwortungsvolle Schwester, dass sich der Rückkehrer verändert hat – aber zwei Jahre sind ja auch eine lange Zeit! Einzig und allein der als Banker erfolgreiche Sohn Frank bleibt eigenartig zurückhaltend. Dennoch freut auch er sich über das scheinbare „Wunder“ der Wiederkehr seines Bruders.
Doch Jenny Valentine belässt es nicht bei dem inneren Konflikt des Protagonisten. Erdrückt von der Lüge beschließt der Ich-Erzähler die Flucht und trifft einen früheren Klassenkameraden Cassiels. Die Begegnung leitet eine für den Leser überraschende Wendung der Geschichte ein. Der ehemalige Mitschüler Floyd scheint über das Verschwinden Cassiels am besagten Tag mehr zu wissen. Steckte Cassiel in Schwierigkeiten? Die Fassade der so friedlich anmutenden Familienidylle beginnt zu bröckeln …
Im Verlauf des Buches bis zum dramatischen Showdown am Ende lernt der Leser Stück für Stück die Vergangenheit des Ich-Erzählers kennen. Durch immer wiederkehrende Rückblenden erzählt die Hauptfigur von ihrer schweren Kindheit und Jugend. Die Einschübe aus der Vergangenheit sind in den meisten Fällen kapitelweise klar abgetrennt, greifen jedoch manchmal auch in die Geschichte Chaps hinein, zum Beispiel in Form von Szenen spontaner Erinnerungen. Bei seinem vermeintlichen Großvater hat er sich immer wohlgefühlt, obgleich dieser für Außenstehende sicherlich in keiner Weise als ein verantwortungsvoller Erzieher daherkommt. Stets betrunken und ständig zur Flasche greifend, lebte der ‚Großvater‘ mit dem Jungen völlig zurückgezogen. Dennoch war er für den kleinen Chap immer dessen einzige Bezugsperson, bis er eines Tages nach einem Unfall nicht mehr nach Hause kam. Plötzlich vollkommen allein, landete der Junge in verschiedenen Kinderheimen und schließlich auf der Straße.
Valentine versteht es, dem Leser in nur kleinen Fragmenten die Einzelheiten der großen Wahrheit zu bieten. Anfangs fühlt man sich durch die tiefgründig dargestellten Gedanken und Ängste mit in die Gefühlswelt des Protagonisten hineingenommen und möchte unbedingt mehr über ihn erfahren. Als es plötzlich um die Aufdeckung von Cassiels Verschwinden geht, erhält die Geschichte noch mehr Spannung und erfährt eine überraschende Schwerpunktverlagerung. Valentines Schreibstil ist leicht verständlich; der Roman lässt sich flüssig lesen, vielleicht auch, weil die überwiegend kurz gehaltenen Sätze zu den spontan geäußerten Gedankenfetzen des Ich-Erzählers passen. Man fühlt sich ihm gegenüber sitzend. Dies wird zudem durch die teilweise direkte Anrede an den Leser bestärkt. Die erwähnten Rückblenden lassen das Erzählen der Hauptfigur reflektierend und wie eine Aufarbeitung ihrer Vergangenheit wirken. Dieser Vergangenheit und seiner eigenen Identität muss Chap sich schließlich auch stellen.
Wahrheit, Ehrlichkeit, Vertrauen, Betrug, Schuld, Familie, Identität und letztendlich auch Selbstfindung – Valentines Thriller hat weitaus mehr zu bieten als bloße Spannung und ungewöhnliche Ideen. Es werden ernsthafte Themen behandelt, die den Leser zum Nachdenken anregen. Eine Geschichte, die es sicherlich nicht nur jugendlichen Lesern schwer macht, dieses Buch wieder aus den Händen zu legen.