Dowd, Siobhan: Auf der anderen Seite des Meeres
Zurück in die Zukunft: Siobhan Dowds Vermächtnis
von Daniela Frickel (2011)
Auf der anderen Seite des Meeres ist der letzte Roman der englischen Jugendbuchautorin Shiobhan Dowd, die vor allem mit ihrem Debütroman Ein reiner Schrei (dt. 2007) auf sich aufmerksam machte. Dowd verstarb 2007, und so bildet das posthum veröffentlichte Werk Solace of the road (dt. Auf der anderen Seite des Meeres) eine Art Vermächtnis: „Holly, das Mädchen, das keiner haben wollte“ (S. 11), sucht auf der anderen Seite des Meeres nach ihrer Familie, flieht in ihren Traum von Mutterliebe und wird dabei mit ihrer trostlosen Vergangenheit konfrontiert.
Das verhaltensauffällige Mädchen hat mir seinen vierzehn Jahren schon eine Menge erlebt: familiäre Verwahrlosung, Gewalt, Aufenthalte in der „Geschlossenen“, in Pflegefamilien und schließlich in Tempelton House, einem Erziehungsheim. Dort hat sich Holly eingelebt, nicht zuletzt dank Miko, ihrem Betreuer. Doch als dieser eine neue Stelle annimmt und sie überredet, sich von den Pflegeeltern Fiona und Ray aufnehmen zu lassen, gerät Hollys – von Angst, Aggressionen und Suizidgedanken heimgesuchtes – zielloses Dasein weiter aus dem Takt: Ihr Anpassungsversuch bei dem gutsituierten Ehepaar scheitert, und als sie in einer Schublade eine Perücke findet, nimmt ihr Plan auszureißen Gestalt an. Holly verwandelt sich schließlich in das ‚It-Girl‘ Solace und macht sich von London aus auf den Weg nach Irland, um ihre Mutter zu suchen.
Die Handlung setzt kurz vor dem Ende von Hollys Flucht ein. Als blinder Passagier eingesperrt in einem Auto auf der Fähre nach Irland rekapituliert sie in Rückblicken zunächst nur den Zeitraum seit ihrem Ausscheiden aus Tempelton House. Zunehmend gerät sie auf ihrer Reise aber auch immer näher an ihre traumatische Kindheitserfahrung, der sie sich schließlich in dem Vakuum, in das sie auf der Fähre gerät, stellt. – Über diesen schwierigen Weg zurück erschließt sich ihr so am Ende eine neue Zukunft.
Auf ihrer nicht ganz ungefährlichen Reise begegnet sie unterschiedlichen Menschen, die ihr zu ‚Schutzengeln‘ werden. Die Begegnungen und Gespräche bringen sie weiter – sowohl auf dem Weg nach Irland wie zu sich selbst. Wichtiger aber noch sind vielleicht ihre Reisen ins Innere, z. B. Gedanken an Mikos Ratschläge, fiktive Zwiegespräche mit ihrer Mutter, die Konfrontation mit Erinnerungsfetzen aus ihrer trostlosen Kindheit und nicht zuletzt die Auseinandersetzung mit Jane Eyre.
Die von Holly verhasste Schullektüre von Charlotte Brontës Klassiker bildet eine Art Vorbild für diesen jugendliterarischen Entwicklungsroman und dient zugleich als Leitmotiv. Trotz – oder besser: wegen – ihrer Antipathie gegenüber der ihr wesensähnlichen Titelheldin gelingt es Holly, bei Verstand zu bleiben. „Der Kerl hatte es so eilig, dass ich fast die Eidechsentasche vergessen hätte. Aber ich war ja kein Dummchen wie Jane Eyre. Sie vergaß ihren Koffer in der Kutsche, als sie davonlief. Sie war eine Jane Ichraffnix. Ich merkte es gerade noch rechtzeitig.“ (S. 138)
Metareflexive Einlassungen zum Thema Lesen und die intertextuellen Bezüge auf Jane Eyre demonstrieren eine Antwort auf die Frage, die viele junge Menschen bewegen mag: „Wozu eigentlich Literatur?“ Aber nicht nur Holly erlebt, sondern der gesamte Roman gibt eine Antwort auf diese Frage, da er aufgrund seiner authentischen (auch sprachlichen) Ausgestaltung Probehandeln im besten Sinne ermöglicht und bietet, was Holly selbst gerne liest: „richtige Geschichten, über Jetzt, damit kann ich was anfangen. Liebe und Sex. Mord. Leute mit Problemen.“ (S. 90)