Bredsdorff, Bodil: Die Mädchen aus der Villa Sorrento
Ein Jahr, in dem nichts bleibt, wie es ist ...
von Melanie Friedrichs und Laura Wiegelmann (2011)
Bella wohnt mit ihrem Vater und ihrer Tante in der „Villa Sorrento“ – einem großen Haus an einem Fjord im Dänemark der 1950er Jahre. Bellas Mutter lebt nicht mehr und bedeutet für das Mädchen nur noch das, was wirklich greifbar ist: ein Foto, ein Grabstein, das quietschende Friedhofstor und der Handgriff des Vaters beim Friedhofsbesuch.
Das Leben in der „Villa Sorrento“ ändert sich entscheidend, als Bellas Vater erneut heiratet und Rigmor, Bellas neue Stiefmutter, eine Tochter mit in die Familie bringt. Schon bald ziehen die beiden in das große Haus ein. Zunächst ist Bella skeptisch, doch sie freundet sich schnell mit der gleichaltrigen Elinor an.
Tante Helga, die nach dem Tod von Bellas Mutter die Erziehung des Kindes übernommen hat, findet sich in der neuen Familiensituation überhaupt nicht zurecht und so kommt es immer öfter zu Konflikten zwischen ihr und Rigmor. Helga fühlt sich in ihrer ‚Mutterrolle‘ bedroht, stichelt zunehmend gegen Elinor – die sie für ihren angeblich schlechten Einfluss auf Bella verantwortlich macht – und mischt sich missbilligend in die Erziehung Elinors ein.
Im Winter verwandeln die Bewohner der Villa Sorrento den zugefrorenen Fjord in eine Tanzfläche und gehen Schlittschuh laufen. Das bald einsetzende Tauwetter wird von neu einsetzendem Frost unterbrochen und obwohl Bella protestiert, kann sie Elinor nicht davon abhalten, sich erneut mit den Schlittschuhen auf das brüchige Eis zu wagen. Elinor bricht ein und wird in Sekunden von den Tiefen des Sees verschluckt.
Bella verkraftet den Verlust ihrer Stiefschwester und Freundin nur schwer und wird von Schuldgefühlen geplagt. Hinzu kommt, dass die Leiche des Mädchens unter der Eisdecke verschollen bleibt. Rigmor und Bella begeben sich täglich auf lange Spaziergänge – in der Hoffnung, doch noch eine Spur der Vermissten zu finden. Elinors Tod, die Erfahrung von Leid und die Trauer um das Mädchen stellen die gerade erst zusammenwachsende Familie auf eine harte Probe, der sich nun alle Familienmitglieder auf unterschiedliche Weise stellen müssen.
So liegt der thematische Schwerpunkt des Buches auch in der Verarbeitung von Tod und Trauer. Obwohl sie durch den Verlust der Mutter bereits Erfahrungen mit dem Tod gemacht hat – diese hat sie aber nie auch nur ansatzweise verarbeitet –, schafft Bella es erst jetzt, sich mit diesem Thema wirklich auseinanderzuzusetzen. „Tote soll man in Frieden ruhen lassen“, dies ist ein Satz Tante Helgas, der prägenden Einfluss auf Bella hinterlassen hat und bezeichnend für den beinahe hilflosen Umgang mit Gefühlen in der kleinen Familie ist.
Auch über Bellas Mutter wird zunächst nicht gesprochen. Das Leben in der Familie scheint vor Rigmors und Elinors Ankunft nahezu stillzustehen: Tante Helga versucht, Bella kleinzuhalten und weigert sich, zur Kenntnis zu nehmen, dass das Mädchen erwachsen wird. Der Vater verharrt dagegen in zurückgezogener Schweigsamkeit. Mit dem Einzug Rigmors und Elinors kommt Bewegung in die Familie, die mit dem abrupten Tod des Mädchens einen kurzen, verstörenden Halt findet. Doch setzen sich Bella, Rigmor und Bellas Vater in der Folge mit dem Tod Elinors auseinander. Tante Helga möchte – aus erst spät aufgedeckten, durchaus verständlichen persönlichen Gründen – immer noch das Gewesene verdrängen, ist hiermit aber letztlich zum Scheitern verurteilt.
Während dieser erneuten Erfahrung des Todes eines geliebten Menschen lernt Bella, vor allem auch durch Rigmor, nun erstmals einen anderen Umgang mit Tod und Trauer kennen und in Bellas Trauer um Elinor mischt sich zunehmend auch eine Verarbeitung des bisher verdrängten frühen Todes der Mutter. Schließlich wird Bella klar: „Leid ist keine Wunde, die die Zeit heilen kann. Leid ist größer, schwärzer, schwerer ... ein Strandstein aus dem dunkelsten Granit, der im Meer langsam sinkt und den Grund nie erreicht.“
Nach Elinors Tod wird Bella stark mit ihren eigenen Gefühlen und denen ihrer Mitmenschen konfrontiert. Genau beobachtet und beschreibt sie, wie die Menschen um sie herum mit dem Verlust Elinors umgehen. Durch die jüngsten Ereignisse entwickelt sich auch die zuvor distanzierte Beziehung zwischen Bella und ihrem Vater.
Eine wichtige Rolle im Roman spielt das volkstümliche „Lied vom Fischermädchen“. Während es in Tante Helgas Missgunst fällt, ist es für Bella und Elinor zunächst Spiel und Zeitvertreib. Später, auf Elinors Beerdigung, dient das Lied als Ausdruck der Trauer um Bellas Freundin. Die Autorin bettet das Lied geschickt in die Geschichte ein und weist ihm die Funktion eines Vorverweises auf das kommende Unglück zu.
Auch Freundschaft, das Erwachsenwerden und die erste Liebe spielen Rollen in Bredsdorffs Roman. Der Leser nimmt an den Ereignissen in Bellas Leben teil, fühlt mit und wird trotz der Tragik von glücklichen Wendungen überrascht. Die Geschichte zeigt, in welcher Form schreckliche Ereignisse das Leben verändern können, gleichzeitig aber ein Glücklichwerden nicht ausschließen müssen.
Die dänische Kinderbuchautorin Bodil Bredsdorff schafft es, in sehr bildhafter Sprache lebendige und gefühlvolle Eindrücke beim Leser zu hinterlassen. So führt sie das Geschehen immer wieder zur „Blutbuche“ im Garten der „Villa Sorrento“, einem unheimlichen Baum, der voller Erinnerungen an Bellas Mutter ist. Als Bellas Vater die Blutbuche schließlich fällen lässt, sind er und Bella erleichtert – steht dieser Baum doch auch symbolisch für ihr unterschwelliges Leid.
Die präzise Darstellung der Ereignisse und Gefühle harmoniert mit dem sensiblen Thema des schmalen Buches, verstört aber gleichzeitig. Dabei wirkt auch das langsame – manchmal belastend ruhige – Erzähltempo auf die Stimmung des Geschehens.
„Die Mädchen aus der Villa Sorrento“ ist ein auch emotional packender Roman über die Verarbeitung von Trauer. Der ungewöhnliche Schreibstil – für ihre Arbeiten wurde die Autorin mit verschiedenen internationalen Preisen ausgezeichnet – passt dabei sehr gut zum Setting der fünfziger Jahre und macht diesen psychologisch sehr dichten Roman zu einem ungewöhnlichen Leseerlebnis.