Müller, Hildegard (Text und Illustration): Der Cowboy
Ein Tag am Meer
von Julia Dannemann (2011)
„Das bin ich. Ich heiße Anna. Das ist mein Hund. Mein Hund heißt Toto.“
So beginnt die Geschichte der kleinen Anna. Es ist Sommer, und gemeinsam mit ihren Eltern und ihrem Spielzeughund Toto fährt Anna ans Meer. Am Strand angekommen, fällt ihr sofort ein etwa gleichaltriger Junge auf: Er sitzt lässig in einem alten Liegestuhl und trägt einen großen Cowboyhut, den Anna ganz blöd findet. Schnurstraks läuft sie an dem Jungen mit dem Cowboyhut vorbei – mit Toto ans Meer. Sie hat ja Toto, was ist da schon ein blöder Cowboyhut? Ihr Hund soll heute schwimmen lernen, Anna will es ihm beibringen. Doch da passiert es: Eine hohe Welle trägt Toto weit hinaus aufs Meer und Anna kann ihn nicht mehr erreichen. Die Erwachsenen kommen angelaufen und gucken, was geschehen ist, aber keiner tut etwas – sie stehen nur da, schauen und reden wild durcheinander. Als alle Hoffnung schon verloren geglaubt ist, fragt der kleine Cowboy mit dem „blöden Cowboyhut“: „Gibt`s ein Problem?“. Ganz souverän rettet er daraufhin Toto mit seinem Lasso. Anna ist begeistert und so schließen die beiden – Anna und der Junge mit dem eigentlich ganz „schönen Cowboyhut“ – zu guter Letzt doch noch Freundschaft und erkennen, dass man sehr viel voneinander lernen kann, wenn man bereit ist, einen Schritt aufeinander zuzugehen.
Das von der Autorin Hildegard Müller selbst illustrierte Bilderbuch „Der Cowboy“ erzählt in einfacher Sprache eine Feriengeschichte vom Kennenlernen – vom ersten Eindruck bis hin zum gegenseitigen Verständnis. Wie auch in ihrem 2001 erschienenen Buch „Bärenfreunde“ (ebenfalls bei Carlsen) greift Hildegard Müller auf einen typischen zwischenmenschlichen Moment – wie ihn Kinder in den unterschiedlichsten, alltäglichen Situationen erleben – zurück, um am Ende ganz sanft und ohne den Zeigefinger zu erheben zu einer tiefergehenden Moral zu gelangen. Die Erkenntnis, dass der erste Eindruck nicht immer der richtige ist und sich oft ein zweiter Blick hinter die Fassade lohnt, entfaltet sich ganz langsam und endet im wortlosen Sonnenuntergang der letzten Seite, so dass Raum entsteht, um gemeinsam über das Gehörte und Gelesene nachzusinnen.
Pastellkreidezeichnungen in leuchtenden Sommerfarben lassen die Unbeschwertheit des sommerlichen Strandlebens spürbar werden. Lebendigkeit erhält das Buch jedoch nicht nur durch die Farbgebung der Illustrationen, welche von Sonnengelb über Korallenrot bis Azurblau reichen, sondern auch durch das Hervorheben und die typographische Darstellung mancher Wörter. Mit Hilfe der Typographie gelingt es Müller, ihren Figuren Tiefe zu verleihen und den Leser an deren Stimmungen und Gefühlen teilhaben zu lassen. So sind beispielweise Wörter, die von der kleinen Erzählerin emotional besetzt sind, fettgedruckt; es fällt auch auf, dass Annas Text im Gegensatz zu dem des kleinen Jungen überwiegend horizontal ausgerichtet ist. Die wörtliche Rede des „Cowboys“, ist hingegen immer in der Diagonale geschrieben. Dies unterstreicht seine Andersartigkeit und seine besondere, wenn auch kindliche Coolness, die ihn von allen anderen Figuren abhebt und den Leser schmunzeln lässt.
Auch die Ausrichtung der Bilder wechselt zwischen horizontal, vertikal und diagonal. Die vor allem zu Beginn des Buches horizontale Ausrichtung der Bilder ändert sich ab dem Moment, als für Anna die Situation außer Kontrolle gerät, als Toto auf dem Meer treibt. Die diagonale und vertikale Ausrichtung können somit auch sinnbildlich dafür verstanden werden, dass das kindliche Erleben in dieser Situation durcheinandergerät. Wenn schließlich der Cowboy und sein Mädchen – sie mit dem Lasso und er mit dem Spielzeughund Toto an der Leine – in den Sonnenuntergang spazieren, ist die Welt wieder ‚in Ordnung’.
Viele Details – wie die Mimik der Figuren, deren Kleidung und Körperhaltung –unterstreichen den inneren, auf der Gefühlsebene erlebten Prozess der Protagonisten. Der Betrachter, Vorleser und Zuhörer wird dadurch in einem hohen Maße empathisch angesprochen und hat somit die Möglichkeit, den tiefer liegenden Aspekt der Geschichte gut aufzunehmen.
Die Erwachsenen werden in der Erzählung blass dargestellt, da sie nicht zu der kindlichen Phantasiewelt von Anna und dem ‚Cowboy’ passen. Rollenspiel und kindliches Erleben gewinnen so stark an Authentizität für den Leser, dass man sich mehr mit Annas kindlicher Welt identifiziert als mit der Welt der Erwachsenen. Natürlich ist Toto in Wirklichkeit nur ein Holzspielzeug und der kleine Junge ist auch kein ‚echter’ Cowboy. Trotzdem steht der Junge, dessen Gesicht unter dem großen Cowboyhut nie ganz zu sehen ist, was ihn auf eine charmante Weise sehr männlich und cool wirken lässt, Charakterdarstellern wie Clint Eastwood in nichts nach und man begleitet Anna in die Faszination des wilden Westens.
Entscheidend ist in diesem Zusammenhang auch, dass das Mädchen seine Urlaubsgeschichte aus einer kindlichen Ich-Perspektive erzählt und die Perspektive des Betrachters zwischen dem Beobachten vom Strand aus und dem Beobachten vom Meer aus abwechselt. Es entsteht ein besonderes Zusammenspiel von Nähe und Distanz, zwischen Sprache und Bild.
Hildegard Müller präsentiert ein auf allen Ebenen gelungenes Bilderbuch. Vor allem die kindliche Perspektive und der amüsante Ton zeichnen dieses Buch besonders aus – und machen Spaß beim Lesen.