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Titelbild
Stephen Kelman:
Pigeon English
Aus dem Englischen von Clara Drechsler und Harald Hellmann
Berlin: Berlin Verlag 2011
298 Seiten
€ 19,90
Ab 16 Jahren
Junge Erwachsene

Kelman, Stephen: Pigeon English

Das Unbehagen in der Kultur

von Nadine Maria Seidel (2011)

Mit „Pigeon English“ hat Stephen Kelman seinen Debütroman vorgelegt. In 18 Länder wurde das Werk bereits verkauft und hat den vormals arbeitslosen Londoner Schriftsteller über Nacht berühmt gemacht.

Der elfjährige Protagonist Harri Opoku ist mit seiner Mutter und der älteren Schwester von Ghana in eine Londoner Hochhaussiedlung gezogen, während der Rest der Familie in Afrika geblieben ist. Der Roman beginnt in medias res an einem noch blutigen Tatort: Ein Junge aus dem Ghetto ist erstochen worden und Harri beschließt, zusammen mit seinem Freund Dean den „Fall aufzuklären“. Dies soll durch sehr kindlich anmutende Methoden geschehen: Fingerabdrücke werden mit Tesafilm ‚konfisziert’, Spuckeproben gesammelt und mit einem auf dem Flohmarkt erstandenem Feldstecher „Verdächtige“ beobachtet. Durch Zufall gerät Harri auf die richtige Spur, ohne sich dessen bewusst zu sein – oder sich bewusst sein zu wollen, da er zusehends die immer evidenteren Zeichen von Gefahr übersieht.

„This boy’s love letter to the world“ steht auf dem Cover der Originalausgabe und dies scheint im Echo von der deutschen Presse adaptiert worden zu sein. Doch Kelman zeigt in seinem Werk weder Sozialromantik, glücklich umschiffte Migrationsklippen oder adoleszente Selbstfindung, sondern dokumentiert die Zerreißprobe des jungen Protagonisten, der, mit so vielen Problemen auf unterschiedlichen Ebenen konfrontiert, nur eine Möglichkeit zu haben scheint: Eskapismus. Denn Harri muss „der Mann im Hause“ sein und seine Familie vor allen Gefahren der fremden Kultur beschützen, er versucht Freunde zu finden und unternimmt zwei glücklose Versuche, von einer berüchtigten Crew aufgenommen zu werden, er verliebt sich zum ersten Mal und begegnet überall Gewalt und Kriminalität.

Und so redet Harri von Supersoakern, Glocks und Haribo, von „messern“ und „lutschen“, von Vulkangöttern und Superhelden, von Mördersuche und immer wieder von seiner Heimat Ghana: Durch Retrospektiven auf die Zeit in Afrika, als die Familie noch beisammen war und Wertesysteme unangetastet funktionierten und Schutz boten, wird das sehnsuchtsvolle Bild einer als heil wahrgenommenen Welt gezeichnet. Zugleich scheint Harris seelischer Zwiespalt auf: Um von der neuen Londoner Peergroup akzeptiert zu werden, müsste er seine alten Werte über Bord werfen – und hadert deswegen mit seiner Erziehung, seiner Moral und seinen Göttern.

Die Dualität des regelmäßig auftauchenden Todesmotivs unterstreicht die Gegensätzlichkeit von Harris früherer und jetziger Heimat: Während Sterben im Kontext Afrikas als Teil eines natürlichen Prozesses beschrieben wird, ist es in England stets widernatürliches „Kulturprodukt“: Wahllose Morde und Totschlag beherrschen die Medien und auch Harris neuen Alltag.

Die vielen im Buch abgedruckten Zeichnungen und Verbotsschilder („Sag Nein zu Fremden“), die genauso auffällig sind wie die zahlreichen, seinen „Stand der Ermittlungen“ dokumentierenden Listen („Anzeichen von schlechtem Gewissen“), stehen zeichenhaft für Harris staunende Sicht auf seine neue Umwelt. Sie paart sich mit seinem freundlichen Blick auf die Welt, ohne den die gewaltsame Ghetto-Realität für den Jungen nicht auszuhalten wäre. Er bewahrt ihn davor, vor den Schrecken der Wirklichkeit zu kapitulieren, bringt ihn aber auch in akute Lebensgefahr, da für Harri nicht sein kann, was nicht sein darf: dass Kinder umgebracht werden von Kindern.

Der Titel „Pigeon English“ spielt einmal auf das ähnlich prononcierte Pidgin English an und damit auf die auch von Harri benutzte reduzierte Sprachform von Nicht-Muttersprachlern. Auf der anderen Seite ist der zweite Ich-Erzähler des Romans, dessen Gedanken kursiv gedruckt einigen Kapiteln vorangestellt sind, eine Taube [= pigeon], und deren Sprache ist alles andere als vereinfacht: Auf vergleichsweise hohem sprachlichen Niveau werden die Gedankengänge des Tieres formuliert, das gegenüber dem Menschen – nahezu allwissend, aber nicht allmächtig – auf einer Metaebene steht.

Clara Drechsler und Harald Hellmann haben für ihre Übersetzung einen Slang kreiert, der das Lesevergnügen der deutschen Ausgabe derart schmälert, dass man sie gerne fragen möchte, was sie sich dabei gedacht haben. Die Übersetzung hat mit heutiger Jugendsprache wenig gemein und lässt sich auch nicht mit einer missglückten Recherche in sogenannten „Szenesprache“-Foren des Duden erklären. „That would suck“ beispielsweise wird mit „Das würde echt arsch saugen“ übersetzt. Manche Ausdrücke wurden durch Großschreibung kurzerhand eingedeutscht: Aus „bulla“ wurde „Bulla“ oder auch „Mulla“, wenn sich zu der holprigen ‚Übersetzung‘ auch noch einer der häufigen Druckfehler gesellt.

Der Roman wirft nicht nur die Frage nach der Natur des Menschen auf, sondern regt zum Nachdenken darüber an, inwiefern das Individuum die Möglichkeit besitzt, seinem Umfeld, seiner Welt zu entkommen oder ob es nicht letztlich nur Glück ist, welches darüber entscheidet. Kelman verhandelt somit eher Fragen philosophischer Natur und sensibilisiert zugleich für die Wichtigkeit bzw. Absolutheit des soziokulturellen Umfeldes, indem er den Leser ratlos aus der Geschichte entlässt – denn der Roman endet nicht mit einem ersten Kuss am letzten Schultag, sondern so, wie er begann: mit dem Mord an einem Kind. – Nicht eben Schonkost für junge Leser ab 16 Jahren.

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