zum Inhalt springen

vergrößern:
Jakob Arjouni:
Cherryman jagt Mr. White
Zürich: Diogenes 2011
176 Seiten
€ 19,90
Ab 16 Jahren
Junge Erwachsene

Arjouni, Jakob: Cherryman jagt Mr. White. Roman

Fiktion jagt Realität

von Jessica Bräu (2011)

In Storlitz, einer fiktiven ostdeutschen Stadt, wächst Rick, der Protagonist des Buches, bei seiner Nenn-Tante auf. Seine Eltern sind ums Leben gekommen, als er noch sehr jung war. Damals fing Rick an, sich mit Comics zu beschäftigen und manche selber zu erfinden. Die Comichelden Batman und Käpt´n Cat retteten in seinen Fantasien seine Eltern, aber nur so lange, bis er zu alt dafür war. Jetzt entwirft er seine eigenen Superhelden.

Rick ist achtzehn Jahre alt, Realschulabsolvent mit wenig Aussicht auf eine Ausbildungsstelle und eine bessere Zukunft. Storlitz bietet kaum Perspektiven, aber viele Anknüpfungspunkte an nationalsozialistische Vereine und Jugendgruppen. Seine Tante, die mit einem Kommunisten verheiratet war, hält nichts von solchen Vereinen. Rick versteht sich eher als unpolitisch, am ehesten noch als grün. Er will unbedingt in Berlin leben und Comiczeichner oder Gärtner werden. Über ehemalige Schulkollegen bekommt er das Angebot für eine Ausbildungsstelle als Gärtner in Berlin. Diese Schulkollegen sind allerdings keine Freunde von Rick – sie haben ihn jahrelang gemobbt und sogar seine Katze getötet. Doch so ein gutes Angebot ist selten und daher lehnt Rick nicht ab, als sie ihm davon berichten.

Die Ausbildungsstelle ist mit einem Auftrag verbunden. An den Park, den Rick pflegen soll, grenzt ein jüdischer Kindergarten an. Ricks Auftrag ist es, diesen zu beobachten und seine Beobachtungen an Pascal, einen Mittelsmann, weiterzuleiten. Pascal macht oberflächlich einen sehr sauberen Eindruck, jedoch scheint dies nur eine Fassade zu sein – schon seine Fingernägel sind alles andere als sauber. Er ist Anhänger des „Heimatschutzes“, einer Organisation, die neonazistische Ideologien verfolgt. Rick kann den schmierigen Pascal nicht leiden, aber für die Ausbildungsstelle schaut er darüber hinweg und will den Auftrag erledigen.

Seine neue Arbeit macht Rick sehr viel Spaß. Sein Chef scheint nett zu sein, in der Bahn lernt er seine erste Liebe Marylin kennen und er knüpft Freundschaft mit Ninu, einem kleinen Jungen aus dem Kindergarten. Deshalb will Rick die Ausbildungsstelle auch auf jeden Fall behalten, obwohl der Auftrag, der offenkundig nicht reine Beobachtung bleiben soll, ihn immer schwerer belastet. Das Schlimme an der Sache ist, das es gar keinen Ausweg zu geben scheint, da sein Chef, Pascal und auch seine ehemaligen Schulkollegen ihn genauestens beobachten. Und alle diese Personen gehören zum Heimatschutz ...

Der Roman „Cherryman jagt Mr. White“ beginnt mit einem Brief Ricks an den Kriminalpsychologen Dr. Layton und kommt im Weiteren als Bericht an Dr. Layton daher. Jedoch ist der Text nicht in Berichtform, sondern in Form einer Erzählung verfasst. Der Leser erfährt direkt, dass Rick im Gefängnis sitzt – erzählt wird in einer aufbauenden Rückwendung. So bleibt bis zum Ende ungewiss, warum der Protagonist in Haft ist, was entscheidend zur Spannung des Buches beiträgt.

Die Ich-Erzählsituation des Buches ist passend gewählt und schafft ein Identitätsgefühl des Lesers mit dem Protagonisten. Der Autor Jakob Arjouni hat dem Protagonisten Rick psychologische Tiefe verliehen, wodurch die Nähe und die Sympathie des Lesers zum Erzähler vertieft wird. Die Adressierungen der Berichte an Dr. Layton erinnern jedoch daran, dass Rick offensichtlich ein Gewaltverbrechen begangen hat, für das er sich rechtfertigen muss – und schaffen so eine Distanz des Lesers zum Erzähler. So taucht man beim Lesen völlig in die erzählte Welt ein, bis man durch die Adressierungen wieder daran erinnert wird, dass der Protagonist im Gefängnis sitzt. Der Leser ist hin- und hergerissen zwischen Verständnis und Unverständnis, Sympathie und Misstrauen zum Erzähler. Durch diesen fortwährenden Wechsel von Distanz und Nähe und die bis zum Ende durchgehaltene Ungewissheit über die Tat wird der Leser in ein ständig wechselndes Gefühlsbad getaucht, bei dem man sich nicht wirklich für oder gegen den Protagonisten entscheiden mag.

Als Rick fünf Jahre alt war, kamen seine Eltern durch einen Autounfall ums Leben. Sein Onkel schenkte ihm einige Zeit später seine ersten Comics, da er seinen Neffen nicht für intelligent genug für anspruchsvollere Literatur hielt. Die Comics halfen Rick, die Situation zu verarbeiten und zurück ins Leben zu finden: „Für Rache hatte ich meine Superhelden“. Als Kind rächte sich der Junge in seinen abgemalten Comics an dem Autohändler, der das Unfallauto unter falschen Angaben verkauft hatte. Manchmal retteten die Comichelden auch seine Eltern. Auch mit fortschreitendem Alter bleibt Rick den Comics treu und erfindet nun zeichnend seine eigenen Superhelden: „Cherryman“ wird bei Gefahr zum Kirschbaum, der seine Feinde tötet, und rächt sich in Ricks Fantasie an manchen Personen, die dem Jungen das Leben schwer machen. Doch Cherrymans Hauptfeind, der schurkische Quallenmensch Mr. White, kann nicht getötet werden, weil er aus kleinsten Gewebestücken immer wieder neu entsteht. Mr. White weist große Parallelen zu Pascal auf, der Rick immer wieder an seinen unumgänglichen Auftrag erinnert. Die Wirklichkeit holt irgendwann die Comicwelt ein und die zeichnerische Gewalt reicht nicht mehr aus ...

Die Verknüpfung des Geschehens mit den Comicgeschichten wirkt nicht konstruiert, sondern macht den Roman facettenreicher und erleichtert das Verstehen der inneren Gedanken der Hauptfigur. Rick verarbeitet vieles durch seine Comics, da er seine Situation mit keiner der wenigen Bezugspersonen besprechen kann.

Viele Dialoge lassen den Leser unmittelbar am Geschehen teilhaben. Der Protagonist erzählt sehr detailreich und mit genauem Blick auf die Situation, aber nicht ohne auch zu werten. Er wirkt zeitweise so sympathisch, dass der Leser in eine Richtung gedrängt wird, die es schwer macht, seine Tat zu verurteilen. Eher fühlt man mit und entwickelt Verständnis für diese scheinbar ausweglose Situation. Die Tat, die Rick begeht, ist grausam und brutal. Das Ende des Buches erinnert dann auch an einen Splatter-Roman und lässt den Leser verstört zurück.

Arjouni, der mit „Cherryman jagt Mr. White“ sein elftes Werk veröffentlicht, ist längst als gesellschaftskritischer Autor bekannt. In seinem Roman greift er das bereits häufig bearbeitete Thema des Rechtsradikalismus auf und schildert eine Geschichte, die trotz herkömmlicher Erzählschemata so oder so ähnlich Realität sein könnte. Die Stimmung, die im Buch kreiert wird, lässt den Leser die Ausweglosigkeit in manch einem ‚Kaff‘ in Ostdeutschland nahezu spüren. Das wirklich Innovative an dem Roman ist die gelungene Verknüpfung mit der Comicwelt, die in keiner Weise gekünstelt wirkt. Im Gegensatz hierzu stehen die negativ besetzten Figuren des Buches, die sehr stereotyp wirken und gängigen Klischees nur allzusehr entsprechen.

Bis zum Schluss bleibt das Werk, eine eigenwillige Mischung aus Problem- und Kolportageroman, Kriminal- und psychologischer Außenseitergeschichte, spannend. Vor allem das durchgehende Spiel mit Nähe und Distanz, aber auch die geschickte Verknüpfung von realem Erleben mit der Comicwelt machen Arjounis Roman lesenswert.

Leseprobe