Härtling, Peter: Paul das Hauskind
Allein gelassen
von Norma Stohr (2011)
„Ich will aber nicht ständig allein sein“, beklagt sich der zwölfjährige Paul, als er wieder einmal von einer geplanten Reise seines Vaters erfährt. Seine Mutter arbeitet seit längerer Zeit in New York, und auch der Vater verlässt ständig die Frankfurter Wohnung und gibt Paul in die Obhut der Nachbarin. So kommt es, dass Paul auch dieses Mal zunächst bei der Rentnerin Käthe Kamenz ein Ersatzheim findet. Als die dann aber erkrankt, beginnt für das Kind eine abenteuerliche Reise durch sämtliche Hausparteien des Mehrfamilienhauses.
Paul erlebt, welche Vielfalt die sympathischen Anwohner des Hauses zu bieten haben. Der hilfsbereite Junge ist nie wirklich alleine: Viele Leute im Haus mögen und umsorgen ihn. Dr. Schwarzhaupt, ein ehemaliger Anwalt, steht Paul immer beratend zur Seite. Der zunächst sehr kühle Rentner wird für den Jungen ein verständnisvoller Freund, zu dem er ein großes Vertrauen aufbaut. Die eitle alte Dame Käthe versorgt ihn wie einen Enkel und bringt ihm immer wieder Verständnis entgegen – sie wird für ihn zu einer Art Ersatzoma. Ebenso wichtig für Paul wird die abenteuerlustige freischaffende Übersetzerin Beate, die ihm sogar hilft, eine Bande von Fahrraddieben zu entlarven. Herzlich aufgenommen wird er auch von seiner Freundin Helene und ihrer Familie. Gleiches gilt für Camillo, den Hausgärtner, und dessen Lebensgefährten Dieter, dem Taxifahrer, deren Wohnung so verziert ist, dass sich Paul dort vorkommt wie in einem Märchen. Mit diesen und vielen weiteren Hausbewohnern verbringt Paul viele fröhliche Stunden. Die Charaktere könnten nicht verschiedener sein – mit jedem ‚Umzug‘ taucht Paul ein in eine neue Welt.
Gleichzeitig wird ganz deutlich, dass die Hausbewohner kein Familienersatz sind und sein können und dass Paul keineswegs glücklich ist. Dem Kind fehlen fürsorgliche und Halt gebende Eltern. Und haltlos ist der Junge: Er merkt, dass er trotz freundlicher Aufnahme der anderen überall nur Gast und nie richtig zu Hause ist. Immer wieder muss er – aus unterschiedlichen Gründen – innerhalb des Hauses umziehen. Die Gastfreundschaft der Nachbarn ist zwar groß, aber nicht grenzenlos. Vor allem aber können sie die Eltern nicht ersetzen. Besonders die Mutter fehlt dem Kind: Paul wartet ungeduldig auf die seltenen E-Mails seiner Mutter, die jedoch immer nichts sagend sind und nie das halten, was sich der Junge erhofft. Als er dann auch noch erfährt, dass seine Eltern sich scheiden lassen werden und sein Vater nach einem psychischen Zusammenbruch in die Klinik muss, fühlt sich Paul unendlich einsam. An dieser Stelle schneidet Härtling behutsam die bewegenden und schwierigen Themen Sorgerecht und Jugendamt an.
Peter Härtling ist seit Jahrzehnten für anspruchsvolle Literatur und bewegende Romane bekannt. Auch in seinem Kinderroman „Paul das Hauskind“ schreibt Härtling mit sehr viel Anteilnahme und Verständnis für Kinderemotionen und nimmt sich der Probleme heutiger Jugendlicher an. Er beschreibt die Gefühle eines Jungen, der von seinen Eltern vernachlässigt wird, und zeigt einfühlsam, was in dem Kind vorgeht und wie es mit dem Verhalten seiner Eltern umzugehen versucht. Es gelingt ihm, Pauls ständige Hoffnung und die stets folgende Enttäuschung durch die Eltern sehr glaubhaft darzustellen. Und schließlich – wie im echten Leben – endet das Buch nicht mit einem „Jetzt ist alles gut“ …
Die häufig verwendete wörtliche Rede und kurze, einfache Sätze gestalten den Roman sehr lebhaft und gut verständlich. Um den jungen Lesern einen besseren Überblick über die vielen Hausbewohner zu verschaffen, gibt eine Illustration auf den beiden Innendeckeln Orientierung: Rund um eine schemenhafte Abbildung des Hauses mit seinen Wohnungen finden sich kurze schriftliche Hinweise zu den einzelnen Hausbewohnern.
Das Buch wird vom Verlag für Kinder ab 11 Jahren empfohlen, seine Lektüre ist aber durchaus auch für erwachsene Leser lohnend. Diese werden in ihm nicht nur einen gefühlvollen, sondern auch einen gesellschaftskritischen Roman erkennen. Härtling macht auf die veränderten Lebensumstände von Kindern aufmerksam und kritisiert gleichzeitig Eltern, die ihre Verantwortung gegenüber ihren Kindern nicht wahrnehmen. Durch empathisches Erzählen weckt der Roman Verständnis für einen alleingelassenen Jungen und dessen aus dem Verlassensein resultierende Wut, seine Aggression, Enttäuschung und Trauer. Gleichzeitig scheut sich Härtling in seiner Geschichte nicht, offensiv Werte einzufordern. Denn auch wenn die – sicherlich überzeichnete – übergroße Fürsorge der vielen Hausbewohner manchmal sehr utopisch wirkt, ist diese gegenseitige Hilfe doch eine schöne Vorstellung und zeigt, dass man mit den unterschiedlichsten Menschen gut auskommen kann – und wie wichtig Hilfsbereitschaft und Freundschaft sind.