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Titelbild
Gabi Kreslehner:
Und der Himmel rot. Roman
Weinheim u. a.: Beltz & Gelberg 2011
140 Seiten
€ 12,95
Ab 14 Jahren
Jugendbuch

Kreslehner, Gabi: Und der Himmel rot. Roman

Ein läuternder Sommer

von Carolin Obermeier (2011)


„Eine Ewigkeit. Festgehalten in Strichpäckchen, vier Striche parallel, der fünfte durchschnitt diagonal und machte voll. Mehr als zweihundert Strichpäckchen, winzig klein auf dem Kalender neben ihrem Foto.“

Seit mehr als tausend Tagen verläuft das Leben von Oliver Darm, dem Protagonisten des Jugendromans „Und der Himmel rot“, nun schon nach einer anderen Zeitrechnung. Zu jener Zeit lebte Oliver noch mit seiner Mutter Monika und seiner Halbschwester Irina einsam, aber idyllisch, in einem Haus am Fluss, ohne trübe Gedanken. Jetzt wohnt Darm, dem sein Vorname abhanden gekommen ist, bei seinem Onkel Kurt, der hin und wieder ein paar Klare in Milis Kneipe kippt. Es gelingt ihm nicht, an seinen Neffen heranzukommen; viel zu fest gefroren ist die Eismauer, die Darm umgibt.

Auch Muskat, Darms bestem und einzigem Freund, fällt es schwer, seinen Kumpel zu verstehen. Schweigen ist in manchen Situationen sicherlich angebracht und hilfreich, doch langsam könnte Darm mal anfangen zu reden – und zwar in vollständigen Sätzen und ohne Lücken. Seine Andeutungen mit Inhalt zu füllen, gelingt nämlich nur schwer. Es ist Darms Verehrerin Jana, die es schafft, langsam und allmählich das Eis zum Schmelzen zu bringen und Darms Verschwiegenheit und Leere aufzubrechen. Die drei Jugendlichen besuchen zusammen eine Klasse und hadern mit ihrem Lehrer Hoffmann, der dem Alkohol nicht abgeneigt ist und nicht nur Janas Vater ist ...

Erst im Laufe des Buches erfährt der Leser Darms Geschichte. Irinas Leiche wird gefunden, nach über drei Jahren. So lang hat der inzwischen siebzehnjährige verschwiegen, dass er dabei war, als seine geliebte Halbschwester bei stürmischem Wetter von einem Baum vom Steg gerissen wurde und die Wassermassen sie einfach mitnahmen. Darm war zwar wütend gewesen, aber so hatte ihr Streit nicht enden sollen. Hilflos ist Darm dem Verlust seiner wichtigsten Bezugsperon ausgesetzt. Gefangen in einer Art Trance, verliert Darm seither immer mehr den Bezug zur realen Welt und hat mit seinen Schuldgefühlen zu kämpfen. Als schließlich auch noch seine depressive Mutter vor Verzweiflung resigniert und sich das Leben nimmt, beginnt Darm zwischen sich und die Welt eine Filmkamera zu halten, die seine leeren Augen ein wenig verdeckt.

Gabi Kreslehners neuer Jugendroman fordert den Leser heraus und hält ihn lange im Ungewissen. Viele Handlungsstränge sind ineinander verwoben und es ist nicht immer leicht, in diesem Netz der Verzweigungen den Überblick zu behalten. Die inneren Monologe der Figuren benötigen Aufmerksamkeit. Doch schnell ist man in Kreslehners Stil eingetaucht und umso mehr bemüht, ihren verschlossenen Protagonisten Darm besser zu verstehen.

Die Geschichte wird von hinten in kleinen Etappen aufgerollt, dabei steckt der erste Teil des Romans voller Andeutungen, die beim Lesen Rätsel aufwerfen. Dieser Effekt wird zusätzlich durch den auktorialen Erzähler unterstützt, der sich vollständig zurücknimmt. Der Leser ist somit Muskat gleichgestellt und auf Darms Figurenrede angewiesen, um die Handlung verstehen zu können. Später blättert sich das Geschehnis chronologisch nach und nach auf. Die Erzählung erstreckt sich über einen ganzen Sommer und ist in zwei unterschiedliche Zeitrechnungen unterteilt: die Zeit vor den mehr als tausend Tagen und die Zeit nach den Schicksalsschlägen.

Kreslehner schreibt in gedanklichen Strukturen, manchmal lang und verschlungen, dann wieder bruchstückhaft und direkt. Sie bedient sich sprachgewaltiger Bilder aus der Natur, so dass Gefühle oder Verhalten mithilfe von Wetterphänomenen, Grundelementen und Farben detailliert beschrieben werden und damit beim Leser eine eindringliche Wirkung hinterlassen. Dieser teils poetischen, mit Metaphern angereicherten Sprache ist eine klare, derbe Sprache entgegengestellt, die dem Jugendroman neben Schwung auch Authentizität verleiht. Die Figurenrede ist dabei unvermerkt mit der Erzählerrede vermischt.

„Und der Himmel rot“ lebt von Symbolik. Darm ist traumatisiert und befindet sich in einem erfrorenen Zustand, kälter als ein Kühlschrank, der sich nicht öffnen lässt. Irinas Schuhe, die sie am Flussufer abgestellt hatte, sind nun sicher in Darms Schrank verwahrt. Sie stehen für eine aufrechthaltende Verbindung zu seiner Halbschwester, gleichzeitig erinnern sie ihn immer wieder an das Vergangene und Darms Schuldgefühle wegen Irinas Tod.

Der Junge flüchtet in seine eigene Welt und versucht, die Schicksalsschläge zunächst zu verdrängen: Er benutzt seinen täglichen Begleiter, die Kamera, nicht nur, um flüchtige Momente festzuhalten, sie fungiert vielmehr als eine Art Schutzwand zwischen der realen Außenwelt und seiner inneren Welt. Zuflucht findet Darm auch im Wasser der Badewanne, hier kann er eintauchen und weiter schweigen. Kreslehners Protagonist zeigt neben depressiven Zügen eine trotzige, spottende Art, die er erst nach und nach ablegen kann. Schließlich erfährt der Jugendliche gegen Ende des Romans eine Art Reinigung: Das Schweigen ist gebrochen, der Eisklotz Darm beginnt allmählich aufzutauen und eine gewisse Leichtigkeit zurückzugewinnen. Nicht zuletzt ist es die Geschichte einer zarten Liebe zwischen Jana und ihm, die dazu führt, dass die Kamera nach langer Zeit abgelegt werden kann. Oliver kann den Winter hinter sich lassen und erlebt einen neuen Sommer.

Tod, Trauer, Verzweiflung, Schuld – Themen, denen sich die Autorin gekonnt in ihrem Werk, das mit dem Kinder- und Jugendliteraturpreis des Landes Steiermark ausgezeichnet wurde, nähert. Dabei verliert sie sich nicht in schwermütiger Tragik. Vielmehr schaffen eine raue, kraftvolle Jugendsprache sowie die Themen Freundschaft und erste Liebe einen angenehmen Ausgleich. Kreslehner legt ein ausdruckstarkes Buch mit überschaubarem Umfang vor, das auch noch über das Jugendalter hinaus gefällt.

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