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1001 Kinder- & Jugendbücher. Lies uns, bevor du erwachsen bist!
Hrsg. von Julia Eccleshare
Vorwort von Christiane Raabe
Zürich: Edition Olms 2010
960 Seiten
€ 29,95
Illustrierter Ratgeber

Eccleshare, Julia (Hrsg.): 1001 Kinder- & Jugendbücher. Lies uns, bevor du erwachsen bist!

Beeindruckend, aber nur begrenzt tauglich

von Otto Brunken (2011)

Mehr als fünfeinhalb Zentimeter ist er dick, und fast zwei Kilogramm bringt er auf die Waage: der von Julia Eccleshare herausgegebene Wegweiser „1001 Kinder- & Jugendbücher. Lies uns, bevor du erwachsen bist!“ Das imposante Werk, das jungen Leseratten und erwachsenen Ratsuchenden den Weg durch den Kinder- und Jugendliteraturdschungel ebnen möchte, besticht allein schon durch schiere Masse: an die Tausend Buchvorstellungen (die „besten Kinder- und Jugendbücher übersichtlich nach Lesealter und chronologisch nach Veröffentlichungsdatum geordnet“), zusätzlich etwa 1700 thematisch geordnete Buchempfehlungen und obendrein 800 häufig ganzseitige Farbbilder (Originalbuchcover und -illustrationen) auf 960 Seiten.

Dass der Ratgeber, dessen deutschsprachige Ausgabe in Zusammenarbeit mit der Internationalen Jugendbibliothek entstanden ist, weitgehend auf die Bedürfnisse des anglo-amerikanischen Marktes zugeschnitten ist, verdeutlicht bereits die in unserem Kulturraum ungewöhnliche Stufung der Lesealter: 0-3, 3+, 5+, 8+ und 12+, wobei für das letztere aber auch Werke für „junge Erwachsene“ – z. B. Salingers „Fänger im Roggen“ – vorgeschlagen werden. Als Bücher für „junge Erwachsene“ werden allerdings auch Titel wie „Jan, mein Freund“ (Peter Pohl) oder Pausewangs „Die Wolke“ apostrophiert. Andererseits sind Werke, die bei uns gewöhnlich nicht der Kinder- bzw. Jugendliteratur zugerechnet werden, bereits für die Altersstufe 8+ ausgewiesen, z. B. Leblancs „Arsène Lupin“ oder Antonio Gramscis „Der Igelbaum“ (aus den „Lettere dal carcere“).

102 Rezensenten haben die Besprechungen übernommen, darunter 30 international mehr oder weniger bekannte Autoren und Illustratoren wie Isabel Allende (zu: „Das Gespenst von Canterville“), Eric Carle (zu: „Der Struwwelpeter“) oder Grégoire Soltareff (zu: „Die drei Räuber“). Sind die Buchvorstellungen der „Star-Rezensenten“ meist eher persönlich, nicht selten auch von subjektiven Leseerlebnissen geprägt, so beschränken sich die übrigen – in der Regel einspaltigen – Rezensionen meist auf eine Inhaltswiedergabe, ggf. knappe historische Einordnungen und positive Kurzbewertungen, für die häufig auf Begriffe wie „aufwühlend“, „bezaubernd“, „eindringlich“, „fesselnd“, „packend“, „unvergleichlich“ oder „wunderschön“ zurückgegriffen wird. Gleichwohl vermögen die Buchvorstellungen – nicht zuletzt auch durch die aussagekräftigen Bilder, die für sich als kleiner Kosmos der Kinder- und Jugendbuchillustration betrachtet werden können – erste Eindrücke zu vermitteln und das Leseinteresse zu wecken.

Wenn man jedoch das voluminöse Werk grosso modo nur mit deutlichen Einschränkungen empfehlen kann, so deshalb, weil es in mancherlei Hinsicht an den Bedingungen des heimischen Marktes vorbeiproduziert ist. Dreihundert der empfohlenen knapp eintausend Titel sind noch nie in deutscher Sprache erschienen. Und noch mehr sind gegenwärtig überhaupt nicht auf dem Markt. Eine Stichprobe für den mit seinen zahlreichen Einträgen wohl recht repräsentativen Buchstaben ‚M‘ ergab, dass von 88 empfohlenen Titeln 26 noch niemals ins Deutsche übersetzt wurden und gerade einmal 19 im VLB als derzeit lieferbar verzeichnet sind, davon zwei als Reclamausgaben, davon wieder eine (Elvira Lindos „Manolito Gafotas“) nur in spanischer Sprache.

Leider fast keine Berücksichtigung finden die in den letzten Jahren von deutschen Kinder- und Jugendbuchverlagen produzierten und von der Kritik hochgelobten Bücher. Zum Beispiel haben es von allen Preisbüchern des Deutschen Jugendliteraturpreises des vergangenen Jahrzehnts lediglich vier in die Liste geschafft, darunter drei australischen Ursprungs (von Wild/ Brooks, Hearn, Zusak) und ein einziges deutsches (Jutta Richter: „Der Tag, als ich lernte die Spinnen zu zähmen“).

Überhaupt die deutsche Kinder- und Jugendliteratur! Etliche von deren Protagonisten treten uns auf dem Cover entgegen: die rote Zora mit ihrer Bande, Jim Knopf und Lukas, der Räuber Hotzenplotz, Emil, Gustav und Herr Grundeis, Max und Moritz, der Baron Münchhausen. Doch der Eindruck täuscht: Lediglich 32 deutsche Autor(inn)en und drei Illustrator(inn)en in Autoreigenschaft sind in dem Ratgeber verzeichnet, und die Auswahl mutet mitunter grotesk an. Warum sollten sich kindliche Leser heute allen Ernstes noch mit Texten wie Campes „Robinson der Jüngere“ (das dröge Werk wird als „fesselnde Geschichte“ empfohlen) oder Heys „Fünfzig Fabeln für Kinder“ beschäftigen? Langt für ein literarisch höchst durchschnittliches Werk wie Alex Weddings „Ede und Unku“ die Anpreisung, dies sei „ein Klassiker der proletarischen Kinderliteratur“? Und für wen hat das außerhalb kinderliteraturhistorischer Kreise heute noch Bedeutung? Fritz Mühlenweg hat unbestritten seine Verdienste – aber gehört er in eine solche Empfehlungsliste, die nicht einen einzigen Vertreter der jüngeren deutschen Autorengeneration verzeichnet?

Die Besprechungen zur deutschen KJL sind von unterschiedlicher Qualität. Christa Stegemann von der IJB, die zusammen mit Beate Vogt die deutsche Ausgabe lektoriert hat, ist in ihren Vorstellungen um wohltuend differenzierte Urteile bemüht. Bei den übrigen Rezensenten vermisst man mitunter eine genauere Vertrautheit mit der deutschen KJL. Da wird dann mitunter am Thema vorbeigeschrieben („Nussknacker und Mausekönig“), Historisches falsch eingeordnet (über Welskopf-Henrichs „Söhne der großen Bärin“ von 1951 z. B. heißt es, der Roman gehöre zu den Indianergeschichten, „die in Deutschland nach der Jahrhundertwende sehr erfolgreich waren“) oder auch die eine oder andere kühne Behauptung aufgestellt (die „Nesthäkchen“-Bücher böten „eine spannende Gelegenheit, viel über Geschichte“ zu lernen). Richtig peinlich wird es dort, wo der Rezensent seinen Gegenstand dadurch adelt, dass er den Verfasser in das kinderliterarische Pantheon einstellt: „Heute zählt [Josef Guggenmos] neben Erich Kästner zu den bedeutendsten Autoren der Kinder- und Jugendliteratur.“ Fazit: ein sehr schön und aussagekräftig bebildertes Werk zum Stöbern und Anregung-Holen, das für manche Beiträge eine bessere Expertise verdient hätte und für hiesige Verhältnisse nur bedingt nutzbar ist.