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Ruta Sepetys:
Und in mir der unbesiegbare Sommer
Aus dem Englischen von Henning Ahrens
Hamburg: Carlsen 2011
304 Seiten
€ 16,90
Jugendbuch ab 14 Jahren

Sepetys, Ruta: Und in mir der unbesiegbare Sommer

Hätten wir das überlebt?

von Anna Lena Bätcke (2012)

 


Juni 1941. Lina ist fünfzehn Jahre alt, als plötzlich die Geheimpolizei vor ihrer Wohnungstür steht und ihr, ihrem zehnjährigen Bruder Jonas und ihrer Mutter zwanzig Minuten Zeit zum Packen gibt. Dann geht es raus auf einen Lastwagen mit anderen verängstigten Menschen. Das unvorstellbare Geschehen nimmt seinen Lauf.

Solche oder ähnliche Schilderungen sind aus der Zeit des Nationalsozialismus bekannt. „Und in mir der unbesiegbare Sommer“ handelt jedoch von einem anderen, relativ unbekannten Teil europäischer Geschichte: der massiven Deportation der baltischen Völker, insbesondere der Intelligenz, durch die Sowjets. Sie begann mit dem Deutsch-Sowjetischen Grenz- und Freundschaftsvertrag vom September 1939, der dafür sorgte, dass die baltischen Länder ca. fünfzig Jahre von der Sowjetunion verschluckt wurden. Lange war es den Überlebenden der Deportationen verboten, über ihre Erlebnisse zu sprechen. Mit diesem Buch wird nun auch ein breites Publikum mit diesem Thema konfrontiert.

„Between shades of gray“, so der vielleicht passendere Originaltitel, ist Ruta Sepetys‘ erster Roman. Ihr Großvater musste nach der Besetzung Litauens 1940 durch die Sowjets fliehen. Sepetys wurde in Amerika geboren, fühlte sich aber immer tief mit ihren baltischen Wurzeln verbunden, so dass sie schließlich begann, Nachforschungen anzustellen. Sie traf Überlebende und besuchte u.a. ein sowjetisches Gefängnis. Aus all diesen Eindrücken und Geschichten entstand dieser eindrucksvolle Roman. Lina und ihre Familie stehen dabei stellvertretend für alle, die ein ähnliches Schicksal durchlebt haben. Die Romanfiguren sind fiktiv, ihre Umstände und Erlebnisse aber nicht. Sie basieren auf den Berichten der Überlebenden.

Lina schildert die Ereignisse aus ihrer Sicht. Herausgerissen aus ihrer beschützten Welt in Litauen, beginnt für sie und viele andere eine unvorstellbare Tortur aus Angst, Hunger, Gewalt, Kälte und Tod – eine lange, grauenhafte Reise, die in Waggons mit der erniedrigenden Aufschrift „Diebe und Huren“ ihren Anfang nimmt und über den Ural und durch Westsibirien bis nach Mittelasien führt, wo die Deportierten in einem Lager Zwangsarbeit leisten. Als sie sich dort nach neun Monaten bereits mit ihrer Lage abzufinden beginnen, werden sie erneut verfrachtet. Von Zwischenlager zu Zwischenlager geht es erst ost- und dann nordwärts quer durch Sibirien und weiter bis zum Nordpolarmeer, wo die Odyssee vorerst in quälender Ungewissheit endet.

Linas Vater, ein Universitätsrektor, ist zum Zeitpunkt der Deportation nicht zu Hause, er wurde bereits in der Universität festgenommen. Er ist eine von Linas wichtigsten Bezugspersonen, und so quält es sie sehr, von ihm getrennt zu sein. Sie will zu ihm Kontakt aufnehmen und klammert sich an die Hoffnung, diesen Albtraum zu überleben und ihn eines Tages wieder zu finden. Linas Mutter steht während der Deportation schützend vor ihren Kindern. Sie gibt nicht nur ihnen Mut und Hoffnung, sondern versucht, in der ganzen Gemeinschaft Liebe, Würde und Menschlichkeit aufrechtzuerhalten. Trotzdem müssen Lina und Jonas viel zu schnell lernen, auf eigenen Füßen zu stehen.

Vom ersten Moment an zieht die Geschichte den Leser in ihren Bann. Sie bricht über einen herein – wie die Geheimpolizei in Linas Wohnung. Man packt die Koffer mit, spürt die Verzweiflung, erlebt die Strapazen der Reise und der Lager, fühlt Ohnmacht und übermächtige Willkür, will wegschauen und muss doch hinsehen. Man hofft die ganze Zeit, dass alles ein gutes Ende haben möge und wird dann doch vom Ende überrascht.

Stück für Stück enthüllt sich Linas Vorgeschichte: Immer wieder erinnert sie sich an ihre Zeit vor der Deportation, an ihre Cousine, an ihren Vater und an ihren Traum, Künstlerin zu werden. Und so, wie sich für Lina langsam alles zu einem Bild zusammenfügt, geschieht dies auch beim Leser. Plötzlich erkennt er die Anzeichen für die Deportation, die Sorge der Eltern, letztlich sogar den vorgeblichen Grund der Verschleppung.

Linas Überlebenselixier sind ihre Zeichnungen. Sie zeichnet, um ihre Erlebnisse zu verarbeiten, um Kontakt mit ihrem Vater aufzunehmen und um Zeugnis abzulegen – ungeachtet der allgegenwärtigen Gefahr, entdeckt zu werden. So schafft sie es, sich nicht aufzugeben. Linas Lieblingsmaler ist der Norweger Edvard Munch, ein Wegbereiter des Expressionismus. So wie dieser Roman handeln auch seine Bilder von Einsamkeit, Verunsicherung, Bedrohung, Liebe und Tod. Besonders sein berühmtestes Werk Der Schrei hat es Lina angetan, verdeutlicht es doch die Haltlosigkeit des Menschen in der Welt, seine Qual, seine Abgeschiedenheit und sein Zurückgeworfensein auf die eigene Person. Lina sieht sich selbst in diesem Bild, denn auch sie fühlt sich ohne jeglichen Halt, als jemand, der abgeschieden vom Rest der Welt seine Qual letztendlich alleine tragen muss.

Aber nicht nur die Zeichnungen geben Lina Kraft, sondern auch ihre Bekanntschaft zu dem zwei Jahre älteren Andrius, einem Mitgefangenen, der für den Lagerkommandanten arbeitet. Sein Vater wurde ermordet und seine Mutter lässt sich vom Lagerkommandanten missbrauchen, um das Leben ihres Sohns zu retten. Doch auch Andrius gibt nicht auf und nutzt seine Position, um den anderen Gefangenen zu helfen. Für Jonas ist er die männliche Bezugsperson und sein Lebensretter. Allen ungünstigen Umständen zum Trotz verlieben sich Andrius und Lina ineinander und eine ungewöhnliche Liebesgeschichte beginnt.

Die Personen um Lina verdeutlichen Leid und Hoffnung zugleich: die Cousine und ihre Familie im Ungewissen; eine junge Frau, die mit ihrem Neugeborenen aus dem Krankenhaus geholt wird; ein mürrischer Glatzkopf, der ständig meckert; eine Lehrerin, die in all dem Elend immer noch einen Sinn darin sieht, die Kinder des Lagers zu unterrichten. Trotz aller Reibereien untereinander stützen sie sich gegenseitig mehr oder weniger und versuchen, Hoffnung und Stolz nicht aufzugeben. Immer wieder treffen sie sich, um sich an die schönen Dinge im Leben zu erinnern. Auf der anderen Seite stehen die bedrohlichen, uneinschätzbaren Sowjets. Nicht nur bei Lina beginnt der Samen des Hasses zu keimen. Aber genauso wächst eine zarte Pflanze der Hoffnung, Vergebung und Liebe, die immer wieder ihre Triebe durch die dicke Schneedecke stecken kann. Selbst auf Seiten der Täter lässt sich mitunter so etwas wie Menschlichkeit erkennen.

Mit deutlichen Worten erzählt Sepetys Linas Geschichte. Schonungslos und ohne Rücksicht auf die jugendliche Leserschaft schildert sie Elend, Gewalt, Todesangst und schließlich den Tod selbst. Denn die „Aufzeichnungen sollen umfassend Zeugnis ablegen“, wie es in dem „Epilog“ heißt, der die Romanhandlung an die nahe Gegenwart (1995) heranholt: „Sie sollen in einer Welt sprechen, in der wir zum Verstummen gekommen sind. Vielleicht wirst du erschrocken oder entsetzt sein, aber das liegt nicht in meiner Absicht. Stattdessen hoffe ich inständig, dass die [...] Aufzeichnungen deine tiefste menschliche Anteilnahme wecken.“

Genau darum schildert „Und in mir der unbesiegbare Sommer“ nicht ausschließlich die grauenhaften Ereignisse der Deportation, sondern ist zugleich auch eine Liebesgeschichte, wie Ruta Sepetys selbst sagt. Eine Geschichte über die Liebe zu seinem Land, zu Gott, zu seinen Mitmenschen und darüber, nicht die Hoffnung aufzugeben. Und über allem soll laut Sepetys die Frage stehen: Hätten wir das überlebt?

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