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Titelbild
Kirsten Boie:
Der Junge, der Gedanken lesen konnte. Ein Friedhofskrimi
Mit Bildern von Regina Kehn
Hamburg: Oetinger 2012
319 Seiten
€ 14,95
Illustriertes Kinderbuch ab 10 Jahren

Boie, Kirsten (Text) und Regina Kehn (Illustration): Der Junge, der Gedanken lesen konnte. Ein Friedhofskrimi

Ermittlungen auf dem 'Partygrab'

vo Hanna Wörsdörfer (2012)


Umzuziehen ist für den zehnjährigen Valentin nichts Neues. Kurz vor seiner Einschulung kam er mit seiner Mutter nach Deutschland und ließ den Rest der Familie in Kasachstan zurück. Nun hat Valentins Mutter einen besseren Job bekommen, so dass die beiden sich schon wieder in einer neuen Stadt zurechtfinden müssen. Erst ist der Junge nicht sonderlich begeistert von dem neuen Wohnort. Doch schnell stellt sich heraus, dass in den noch verbleibenden Wochen der Sommerferien mehr passieren wird, als Valentin je erwartet hätte …

Auf seiner Erkundungstour durch das neue Viertel stößt der Ich-Erzähler sehr bald auf einen Friedhof, wo er zum ersten Mal der etwas verwahrlosten Frau Dicke Frau begegnet, die immer dasselbe anhat, „drei Schichten übereinander“. Valentin schüttelt seine Scheu ab und hilft ihr, ihren mit Plastiktüten voll bepackten Einkaufswagen die Stufen zum Friedhof hochzutragen. Anstatt eines höflichen Dankes erntet der Junge von Frau Dicke Frau aber nur ein: „Na also, geht doch! Heilige Jungfrau! Du Arschloch!“ Völlig verwirrt von der Erscheinung der Frau, passiert es Valentin zum ersten Mal, dass er in die Gedanken eines anderen Menschen eintaucht. Plötzlich sieht er Bilder, die nur aus dem Kopf von Frau Dicke Frau stammen können, und versteht ein bisschen besser, warum sie sich so komisch verhält.

Auf seinem weiteren Weg über den Friedhof lernt Valentin Bronislaw, den polnischen Friedhofsgärtner, kennen. Wenn der sich nicht gerade um die Bepflanzung der Gräber kümmert, trinkt er gerne ein Bier auf der Grabstelle der Schilinskys. Das ältere Ehepaar hat sich aus Geldmangel anstelle eines richtigen Schrebergartens schon mal ein Grab gekauft. Auf dem richten die Schilinskys nun, wenn das Wetter es zulässt, herrliche Picknicks an, zu dem sie Frau Dicke Frau, Bronislaw und jetzt auch Valentin gerne einladen. Ein weiterer Gast der Schilinskys und damit auch neuer Freund des Protagonisten ist Herr Schmidt mit seinem Foxterrier Jiffel. Die beiden besuchen täglich Herrn Schmidts Frau Else, die im Grab nebenan liegt, und kommen dann gerne noch auf ein Würstchen am 'Partygrab' vorbei. Für Valentin wird die ganze fröhliche Grabgemeinschaft schnell zu einem Familienersatz, der ihn vergessen lässt, wie weit weg seine Großeltern und sein Vater leben und dass seine Mutter den ganzen Tag arbeiten muss.

Zwischen Schlagermusik aus dem Radio und kalten Getränken aus Frau Schilinskys Kühlbox häufen sich auf dem Friedhof jedoch plötzlich merkwürdige Ereignisse. Der Golddollar von Frau Dicke Frau verschwindet, Bronislaw wird in der Friedhofskapelle überfallen, und die Toiletten sind aus unerklärlichen Gründen verschlossen. Dabei müssen die immer offen sein, sagt Bronislaw: „Immer. Geht gar nicht anders, ist Gesetz.“ Zu allem Überfluss geht in der Stadt auch noch ein Juwelendieb um. Valentin macht es sich zur Aufgabe, in all den Fällen als Detektiv zu ermitteln – so wie er es aus seinen Büchern über die Kinderbande kennt, die er so gerne liest und die nun Ähnlichkeit mit seinem eigenen Leben aufweisen. Nur dass Valentin hierbei, neben seinen Ermittlerqualitäten, auch seine Fähigkeit Gedanken zu lesen zugutekommt.

Der skurrile Roman „Der Junge, der Gedanken lesen konnte. Ein Friedhofskrimi“ ist das neue Buch der oft ausgezeichneten Kinder- und Jugendbuchautorin Kirsten Boie. Sie zeigt auf 319 Seiten, wie man viele verschiedene Handlungsstränge ineinander verwebt und dabei eine eher unspektakuläre Kriminalgeschichte durch wesentlich interessantere und lustigere Vorkommnisse aufwertet. Diese lösen immer wieder die Ermittlungen ab, die sehr nah an die ‚klassischen‘ Kinderkrimis angelehnt sind. Nach dem Muster von Enid Blytons Fünf Freunden, TKKG oder den Drei ??? überführt eine Kinderbande, hier aus zwei Jungen bestehend, durch aufmerksame Detektion und logisches Kombinieren mehrere Verbrecher. Auch dass in höchster Not, in die die jungen Detektive geraten, Erwachsene, hier verkörpert durch Polizisten, im letzten Augenblick zur Hilfe eilen, gehört zum Plot der Kinderkrimis. Dass Boie dieses Erzählschema weitestgehend übernimmt, macht die Krimihandlung vorhersehbar und damit nur mäßig spannend. Gleichzeitig unterläuft sie jedoch das Muster ironisch dadurch, dass die Täter am Ende nicht vollständig aufgedeckt werden, vor allem aber dadurch, dass sie zum Schluss augenzwinkernd Valentin den Realitätsgehalt von Kinderkrimis anzweifeln lässt: „Ich bin endlich wieder zum Lesen gekommen. Dabei habe ich festgestellt, dass ich die Geschichten von der Kinderbande nicht mehr wirklich glauben konnte. So viele Zufälle wie bei denen gibt es im echten Leben eben doch nicht. Und dass einer so schlau ist wie das Superhirn. Oder dass immer in letzter Sekunde doch noch Hilfe kommt.“

Neben der Kriminalgeschichte geht es unter anderem um Valentins Umzug in eine neue Stadt und um seine Rolle als Ausländer in Deutschland. Zwar ist der Junge erst vor etwa vier Jahren aus Kasachstan gekommen, spricht aber schon sehr elaboriert und akzentfrei deutsch. Auch kann er immer wieder sein großes Allgemeinwissen in die Ermittlungen und Gespräche einbringen: „Es gibt auch etwas, das ambidexter heißt. Dann sind die Leute gleichzeitig Links- und Rechtshänder.“ Und selbst wenn Valentin in seiner Erzählung mal ein Schimpfwort erwähnen muss, entschuldigt er sich sofort dafür: „‘Scheiße, Scheiße, Scheiße!‘, hat Kuchenbrodt gebrüllt. Ich muss das hier leider sagen, um zu zeigen, wie wütend er war. Den Fluch habe ich ja schon verschwiegen.“

Kirsten Boie zeigt außerdem, wie problemlos Freundschaften zwischen verschiedenen Kulturen entstehen können. Valentin lernt kurz nach seinem Umzug Mesut kennen, der im gleichen Haus wohnt und immer vor der Tür rumlungert. Bei ihrem ersten Treffen stolpert Valentin über Mesuts Füße und bekommt dafür gleich einen Spruch zu hören: „Was ist du Spast, hast du keine Augen im Kopf? Verpiss dich!“ Doch schon bald stellt sich heraus, dass Mesut ein fast so guter Ermittler ist wie Valentin und mit seinen lustigen Sprüchen auch gut in die Gemeinschaft auf dem 'Partygrab' passt.

Die Klammer des Romans, dessen Kriminalhandlung erst im zweiten Teil Fahrt aufnimmt, ist jedoch das Thema 'Tod', das die Autorin auf verschiedenen Ebenen aufgreift, was aber an keiner Stelle moralisierend oder aufdringlich wirkt. Der zentrale Ort aller Geschehnisse im Roman ist der Friedhof, der Ort, an dem die Toten begraben liegen, aber auch der Ort, in dem es im Sommer unter den Bäumen angenehm kühl ist. Doch auch die Menschen, die Valentin kennenlernt, haben alle auf die eine oder andere Weise mit dem Tod zu tun. Frau Dicke Frau hat ihren Sohn bei einem Autounfall verloren und ist darüber in Verwirrung geraten. Herr Schmidt wartet nur darauf, endlich seiner Frau „ins Paradies“ folgen zu können. Die Schilinskys bereiten schon zu Lebzeiten ihre Grabstätte vor: „da liegen später mal wir […]! Eines Tages! Meine Evi und ich. Es ist ein Doppelgrab.“ Mesuts Uroma in Anatolien ist vor kurzem gestorben. Und wie sich nach und nach herausstellt, hat auch Valentin schon Ähnliches erlebt …

Der zweiteilige Roman ist in 50 Kapitel gegliedert, wobei der Text immer wieder durch Aquarellzeichnungen von Regina Kehn ergänzt wird. Die Illustrationen sind in unterschiedlich abgetöntem Grau gehalten, geben jedoch durch den Einsatz eines sonnigen Gelbtons die mit Sommerhitze geladene Atmosphäre auf dem Friedhof und in der Stadt sehr gut wieder. Nur auf einem einzigen Bild verwendet die Zeichnerin die Farbe rot, um die Herzen der Menschen zu kennzeichnen, die bereits einen lieben Menschen verloren haben. Die Illustrationen zeigen mitunter collagenartige Einblicke in Valentins Gedanken, fassen Geschehnisse zusammen oder geben einen Ausblick auf das nächste Kapitel.

Kirsten Boie schafft es, in einem einzigen Buch mehrere brisante Themen ungezwungen zu vereinen, und gibt dem Leser gleichzeitig das Gefühl, mitten im Geschehen zu sein, so dass es einem selbst als Erwachsener völlig logisch erscheint, dass ein zehnjähriger Junge Gedanken lesen kann, auf einem Friedhof gepicknickt und ganz nebenbei noch ein Schwerverbrecher gestellt wird. Mehr kann man von einem Kinderbuch nicht verlangen!

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